Der rassistische Normalzustand und seine immer aktionistischere Auslebung machen uns betroffen und wütend, auch wenn sie nicht von ungefähr kommen. In Zeiten, in denen sich ein Großteil der Bevölkerung von humanitären Gefühlen verabschiedet hat und der Tod von tausenden Menschen im Mittelmeer billigend in Kauf genommen wird, in Zeiten, in denen die NPD-Rhetorik der „Wirtschaftsflüchtlinge“ Einzug in den gesellschaftlichen Diskurs gefunden hat, ist ein solcher Anschlag nicht verwunderlich. Gerade in Lübeck trat in den letzten Wochen in der Debatte rund um die geplante Erstaufnahmeeinrichtung im Bornkamp immer deutlicher in Erscheinung, wie tief rassistische Ressentiments verwurzelt sind und wie unverhohlen dieser zur Stimmungsmache bedient wird. Bereits in den 90er Jahren wurde die Stadt Lübeck durch zwei Brandanschläge auf die Synagoge und den bis heute unaufgeklärten Brandanschlag auf die Unterkunft für Geflüchtete in der Hafenstraße mit zehn Toten und 38 zum Teil lebensbedrohlichen Verletzten zum Symbol antisemitischer und rassistischer Gewalt. Knapp 20 Jahre nach dem Brandanschlag in der Hafenstraße wird Lübeck durch den Brandanschlag im Stadtteil Kücknitz erneut Schauplatz rassistisch motivierter Taten.
Am 10. Dezember 2014 luden verschiedene Kücknitzer Vereine, Verbände, Institutionen und Parteien zur einer Informationsveranstaltung ins Kücknitzer Gemeindehaus ein, um über den Bau der geplanten Unterkunft für Geflüchtete zu informieren. Entgegen dem bundesweiten Trend verlief die Veranstaltung nach Bewertung von Lübecker Antifaschist_innen durchaus positiv. Keiner der bis auf den letzten Platz belegten anwesenden Kücknitzer Anwohner_innen bediente sich rassistischer Ressentiments oder äußerte sich kritisch oder abwertend gegen den Bau der Unterkunft. Vielmehr war es den Anwohner_innen ein Bedürfnis, sich aktiv in den Gestaltungsprozess zur Integration der Geflüchteten mit einzubringen. Listen für Unterstützer_innen wurden erstellt, ein Flipchart wurde eingerichtet, auf dem u.a. Fragen und Anregungen zur praktischen Unterstützung gesammelt wurden. Bereits einige Tage vor der Veranstaltung wurden Antifaschist_innen kontaktiert, um ggf. (organisierte) Neonazis von der Veranstaltung auszuschließen. Es ist den Veranstaltern ein dringendes Bedürfnis gewesen, Nazis keine Plattform zu geben und im Rahmen dieser Informationsveranstaltung ihren rassistischen Parolen und Gedankengut in Umlauf zu bringen und womöglich dafür zu sorgen, dass die Stimmung kippt. So wurde vor der Veranstaltung ein stadtbekannter Nazi, der im Umfeld der Lübecker NPD zu verorten ist, von Antifaschist_innen identifiziert und von der Veranstaltung ausgeschlossen.
Der abgewiesene, in Kücknitz lebende, 47-jährige Dirk Müller ist seit Jahren innerhalb der extremen Rechten in Erscheinung getreten und bekannt dafür, dass er die Auseinandersetzung und Konfrontation sucht. So beteiligte er sich beispielsweise am 08. Mai 2010 im Rahmen des „Ehrendienstes“ auf dem Lübecker Vorwerker Friedhof, um sich an Reinigungsarbeiten von Denkmälern deutscher Kriegstäter zu beteiligen, wozu bis heute regelmäßig extrem rechte Organisationen aufrufen. In Folge dieser Veranstaltung griff Müller mit weiteren Nazis anwesende Antifaschist_innen mit einer Gartenharke an, um diese zu verletzen. Der Angriff konnte abgewehrt werden. In Hinblick auf die immer kleiner werdende und unorganisierte Naziszene in Lübeck halten Antifaschist_innen es für wahrscheinlich, dass, wenn der Brandanschlag aus den Reihen der extrem rechten Szene in Lübeck verübt worden ist, der in Kücknitz lebende Müller Informationen über die Täter_innen besitzt und/oder über das Vorhaben im Vorfelde informiert war.
Der NPD-Kreisverband Lübeck-Ostholstein, unter der Führung von Jörn Lemke, griff ein Tag nach der oben beschriebenen Informationsveranstaltung das Thema öffentlich auf. Unter der Überschrift „Neues Asylantenheim in Lübeck – Gutmenschen in Kücknitz freuen sich über weitere 100 Flüchtlinge“ schrieb Lemke im Artikel: „Nur die NPD leistet Widerstand gegen den ausufernden Asylantenzustrom“. Ob dieser hohlen Phrase Taten folgten, ist ungewiss, jedoch gilt der in der Naziszene umstrittene Lemke als Dirigent aktionistischen Handelns. So befehligte Lemke am 17. November 2013 einen Angriff auf Antifaschist_innen, welche die Anreise eines Vorabtreffpunktes von Nazis in Neumünster zum „Heldengedenken“ in Groß Kummerfeld dokumentierten.
Bereits im Jahr 2012 organisierte Lemke eine breit angelegte „Propaganda-Aktion“, um mit Flugblättern und mehreren tausend Aufklebern gegen eine entstehende Unterkunft für Geflüchtete im Lübecker Stadtteil Moisling zu hetzen. Durch kontinuierliche antifaschistische Aufklärungsarbeit konnte der Nazi-Propaganda damals wirksam entgegengetreten werden. Bis heute bedient sich Lemke des Konzepts der massiven Verteilung von Propagandamaterial. So wurde am 20. Juni 2015 auf der lokalen NPD-Website ein mit Lemkes Namen unterzeichneter Aufkleber beworben, der sich gegen die Unterbringungen von Geflüchteten richtet. Eben dieser Aufkleber wurde um und auf dem Gelände der Kücknitzer Unterbringung verklebt, auf dem Unbekannte neun Tage nach der Bewerbung des Propagandamaterials einen Brandanschlag verübten.
Am Montag machten sich Antifaschist_innen auf den Weg nach Kücknitz, um sich ein Bild vor Ort zu machen. In Dialogen mit Kücknitzer Anwohner_innen, die in direkter Nähe zur entstehenden Unterkunft leben, wurde tiefe Bestürzung zum verübten Brandanschlag deutlich. Bereits am Abend versammelten sich spontan über 100 Anwohner_innen zu einer Kundgebung in direkter Nähe zur Unterkunft, um sich solidarisch mit Geflüchteten zu zeigen und ihren Unmut und ihre Betroffenheit über den Brandanschlag zum Ausdruck zu bringen.
Wir als Antifaschist_innen sehen es als unsere Pflicht, uns in solche Vorgänge einzumischen und gewisse Entwicklungen zu kritisieren und zu verändern. Wir müssen Rassismus benennen, ihn aufzeigen und entschieden bekämpfen. Unser Anliegen muss sein, dafür zu sorgen, dass sich rassistische Brandanschläge nicht wiederholen. Mit Blick auf die aktuelle Situation in Deutschland scheinen wir dafür noch nicht die geeigneten Mittel gefunden zu haben. Trotz des Brandanschlags in Kücknitz halten Antifaschist_innen die Mehrheit der Kücknitzer Anwohner_innen für aufgeschlossen und solidarisch gegenüber Geflüchteten. Der Anteil an Kritiker_innen scheint gering zu sein. Doch solange Menschen rassistische Hetze betreiben, Wohnhäuser angreifen und anzünden, werden wir dagegen kämpfen, die Betroffenen unterstützen und den Täter_innen zeigen, was wir von ihnen halten. Solange Nazis und/oder Rassist_innen weiter stumpf rassistische Klischees bedienen, sich an der Hetze beteiligen und sich im Stillen über die Angriffe freuen, werden wir da sein und dagegen vorgehen und dem rassistischen Mob keine Gelegenheit geben sich zu formieren.
Solidarität auf die Straße tragen – Refugees Welcome.
Rassismus tötet – damals wie heute!
Antifaschistische Koordination Lübeck
Demo „Refugees Welcome – Gegen jeden Rassismus“ | Samstag, 11.07. | 14 Uhr | Bahnhof, Lübeck
Gemeinsame Zuganreise aus Kiel: Abfahrt 12.44 Uhr | Treffen um 12.30 an den Fahrkartenautomaten
Pressespiegel
Lübecker Nachrichten
29.06.2015 – Brandanschlag auf geplante Flüchtlingsunterkunft
29.06.2015 – Anwohner und Politiker verurteilen Brandanschlag
30.06.2015 – Albig verurteilt Anschlag auf Flüchtlingsunterkunft als feige und widerlich
HL live
29.06.2015 – Anschlag auf geplante Flüchtlingsunterkunft
29.06.2015 – Jusos entsetzt über Brandanschlag
29.06.2015 – Grüne: Anschlag rasch aufklären
29.06.2015 – CDU: Gemeinschaftsunterkunft ist richtig
29.06.2015 – SPD: Entsetzen über Brandanschlag
29.06.2015 – Pröpstin: Unsere Stadt bleibt weltoffen!
Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag
29.06.2015 – Lübeck-Kücknitz: Brandanschlag auf Asylbewerberheim-Baustelle
30.06.2015 – Torsten Albig: Anschlag in Lübeck ist „feige und widerlich“
taz
29.06.2015 – Flüchtlinge nicht willkommen
NDR
29.06.2015 – Brand in Lübecker Flüchtlingsunterkunft
30.06.2015 – Lübecker Brandanschlag: Belohnung für Hinweise
Hamburger Abendblatt
29.06.2015 – Anschlag auf Flüchtlingsheim – Stadt Lübeck verurteilt Tat
30.06.2015 – Albig: Anschlag auf Flüchtlingsunterkunft ist feige