Gedenken an rassistische Morde in Kiel

Am Donnerstag, 24. November 2011 versammelten sich am späten Nachmittag etwa 150 Menschen auf dem Berliner Platz in der Kieler Innenstadt auf einer binnen weniger Tage organisierten Gedenkkundgebung der Türkischen Gemeinde Schleswig-Holstein und des DGB Region KERN, die von weiteren Organisationen unterstützt wurde. Im Zentrum der Mahnwache wurden vor Schildern mit den Namen der Ermordeten Kerzen entzündet, zudem wurden vier Redebeiträge gehalten.
Zunächst riefen der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde SH Cebel Kücükkaraca und Ralph Müller-Beck vom DGB zu einem solidarischen Miteinander ohne Rassismus auf. Ersterer kritisierte zudem das Verharmlosen und Ignorieren von Rassismus und rechter Gewalt in Deutschland, der Gewerkschaftsredner positionierte sich darüber hinaus gegen den staatlichen Bekenntniszwang für antifaschistische und antirassistische Initiativen im Sinne der Extremismusklausel.
Dass als dritte Rede ausgerechnet ein Beitrag des durch Abwesenheit glänzenden schleswig-holsteinischen Justiz- und Integrationsministers der schwarz-gelben Landesregierung Emil Schmalfuß verlesen wurde, der zwischen Heuchelei, Unsinnigkeit und Hilflosigkeit angesiedelt werden konnte und selbstredend nicht ohne das obligatorische schwammige Statement gegen „Gewalt und Extremismus“ auskam, löste Unverständnis bei einigen Teilnehmer_innen aus. Auch der als letzter Redner der knapp einstündigen Kundgebung aufgetretene sozialdemokratische Kieler Oberbürgermeister Torsten Albig traf mit seiner (rhetorischen) Feststellung, dass „Rassismus in unserer Gesellschaft keinen Platz“ habe, in Anbetracht des Hintergrunds der Veranstaltung, die mit den neun Neonazi-Morden nicht weniger als die erschreckend brutale Spitze einer, auch staatlicherseits alltäglich rassistisch ausgrenzenden deutschen Gesellschaft thematisierte, weder realitätsnahe noch würdige Worte für die Toten.
An der medial relativ stark beachteten Mahnwache beteiligten sich neben vielen Angehörigen der aufrufenden Migrant_innenverbände und Gewerkschaften sowie lokaler antifaschistischer Organisationen auch einige Gesichter aus der provinziellen Parlamentarier_innenprominenz.
Am Samstag, 26. November fand desweiteren wie in anderen deutschen Städten eine Aktion im Rahmen der bundesweiten Mobilisierung „Schweigen gegen das Schweigen“ auf der Hörnbrücke über der Kieler Förde statt. An diesem spätmittäglichen, etwa halbstündigen Silentmob gegen rassistischen Terror, bei dem die Teilnehmer_innen öffentlichkeitswirksam die Namen der Ermorderten sowie weiße und rote Rosen trugen, beteiligten sich etwa 75 Personen, die auch den Basischarakter der Initiative im Vergleich zur institutionslastigen Mahnwache am Donnerstag widerspiegelten.
An beiden Gedenkveranstaltungen beteiligten sich jeweils auch einige autonome Antifaschist_innen, die sich mit dort verteilten Flugblättern gegen jede Form des Rassismus und eine bloße Imagepolitur des mal wieder rufgeschädigten Deutschlands und für die Auflösung des in den Neonazi-Terror tief verstrickten Verfassungsschutz sowie einen aktiven Antifaschismus unabhängig von staatlichen Einrichtungen und frei von Extremismusdoktrin positionierten.



Weitere Berichte
Gedenkkundgebung (24.11.2011): KN | TGS-H | ndr
Silent Mob (26.11.2011): KN | youtube

PI-News in der Kieler Innenstadt

Wir dokumentieren einen Artikel von Indymedia linksunten:

Nachdem die Rassist_innen von Pax Europa, PI-News und „Die Freiheit“ in Kiel vor ein paar Wochen bei dem Versuch Menschen mit ihrer absurden Sicht dieser Welt zu belästigen antifaschistischer Gegenwehr ausgesetzt waren, tauchten sie diesen Samstag in Begleitung der Polizei und einiger, im Vergleich zu den letzten Malen, „sportlich“ wirkender Menschen aus der eigenen Reihen wieder auf.

 

Schnell fanden sich auch einige Antifaschist_innen am Asmus-Bremer-Platz in der kieler Innenstadt ein um, soweit möglich, die Aktion der Rassist_innen nicht unbeantwortet zu lassen. Insbesondere das „Besetzen“ des Infostandes zeigte einigen Erfolg, nervte die Veranstalter_innen ziemlich und gab offenbarende Einblicke in die Gedankenwelt dieser Menschen. So meinen diese trotz einer theoretisch absurden Mischung aus Islamophobie, Antikommunismus, Xenophobie und einem Nationalismus der teilweise bis hin zu nationalsozialistischen Bezügen reicht (siehe „Nürnberg 2.0“), kombiniert mit Versatzstücken klassischer Verschwörungstheorie, keine Rassist_innen zu sein. 

 

Es bleibt abzuwarten was der bald anlaufende Wahlkampf in Schleswig-Holstein noch so bringt. Zumindest stimmt es hoffnungsvoll, dass innerhalb der antifaschistischen Linken das Bewusstsein für die „Rechtspopulist_innen“ offensichtlich gestärkt ist und diese ihre Aktionen nicht mehr unbeantwortet durchführen können.

 

Bilder des Infostandes sind in dem Artikel auf Indymedia linksunten zu finden

„Pax Europa“ und „Die Freiheit“ auch in Kiel unbeliebt

>>In Kiel hielten Rassisten von „Die Freiheit“ und „Pax Europa“ einen Infostand in der Innenstadt ab. Beim nächsten Mal werden sie es sich vielleicht überlegen, es besser sein zu lassen. Auf ihrer Homepage verkündete die rechtspopulistische „Bürgerbewegung Pax Europa“ in der Kieler Innenstadt einen Infostand über Christenverfolgung abhalten zu wollen. Pax Europa hetzt unter dem Deckmantel freiheitliche Werte verteidigen zu wollen, vor allem gegen Migrant_innen, die von den Rassist_innen als muslimisch identifiziert werden oder tatsächlich muslimisch sind.<<
So steht es in einem auf Indymedia linksunten veröffentlichten Artikel vom Samstagabend. Die Rassisten hatten sich offenbar die eine oder andere Ohrfeige abgeholt als sie versuchten, AntifaschistInnen Flyer in die Hand zu drücken. Es heißt weiter: >>Die inhaltliche und öffentliche Auseinandersetzung mit der geistigen Diarrhoe der Rechtspopulist_innen ist wichtig und notwendig, wichtig und notwendig ist aber auch, praktisch zu intervenieren, sobald diese versuchen, ihre bescheuerten Inhalte in die Öffentlichkeit zu tragen.<<
Nachdem also bereits am Freitag auf der antifaschistischen Kundgebung „Solidarität mit allen Betroffenen staatlicher Repression und rechter Gewalt!“ das erstarken des Rechtspopulismus in Europa inhaltlich thematisiert und kritisiert wurde, offenbar auch in beisein zweier Rassisten von „Die Freiheit“, bekamen die Adressaten einen Tag später die Kritik dann handfest und unmissverständlich präsentiert.
In Berlin demonstrierten auch bereits am Freitagabend etwa 500 Menschen gegen die Partei „Die Freiheit“ und den so genannten „Anti-Islamisierungskongress“ vor deren Zentrale. Mehr Infos dazu gibt es unter http://zusammenhandeln.blogsport.eu/ und beim Berliner Bündnis gegen Rassismus und Sozialchauvinismus.

Redebeitrag „Nazigewalt BRD“ 26.8.2011 / Antifa-Kundgebung Kiel-City

Solidarität mit den Projekten Tuntenhaus, Anton-Schmaus-Haus, Tommy-Weisbecker-Haus, Bandito Rosso und dem Antifa-Laden Red Stuff!
Solidarität mit allen Betroffenen neonazistischer Gewalt!
In den letzten Monaten kam es bundesweit zu einer Vielzahl neonazistischer Gewalttaten: Mitte Mai jagten Neonazis, nach dem gescheiterten Versuch einer Demonstration durch den Berliner Stadtteil Kreuzberg, Migrant_innen, Journalist_innen und Gegendemonstrant_innen durch einen U-Bahnhof und verletzten diese dabei teilweise schwer. Ende Mai wurden im sächsischen Limbach-Oberfrohna Jugendliche bei dem Ausbau eines neuen Infoladens, der alte Infoladen wurde durch einen Brandanschlag im November 2010 zerstört, von Nazis verbal bedroht. Später attackierten 20 vermummte Neonazis das Gebäude mit Flaschen und Steinen.
In Buchholz bei Hamburg sind Ende Juni zwei Jugendliche aufgrund ihres Engagements in der Partei Die Linke von stadtbekannten Neonazis geschlagen und mit dem Messer bedroht worden. In der Nacht vom 26. auf den 27. Juni 2011 kam es zu einer Reihe von fünf Brandanschlägen auf alternative Läden, Projekte und Wohnhäuser in Berlin bei denen Todesopfer billigend in Kauf genommen wurden. „Redebeitrag „Nazigewalt BRD“ 26.8.2011 / Antifa-Kundgebung Kiel-City“ weiterlesen

Berufungsprozess wegen neonazistischem Übergriff auf Claudiu C. endet mit Gefängnisstrafe – Christopher R. gewährt Einblicke in rechte Strukturen Kiels

Am Montag, 6. Juni 2011 ging vorm schleswig-holsteinischen Landgericht in Kiel das Berufungsverfahren gegen das ehemalige Mitglied der neonazistischen “Aktionsgruppe Kiel” Christopher R. zu Ende. R., diesmal vertreten durch den bisher nicht mit rechten Kreisen in Erscheinung getretenen Rechtsanwalt Dr. Jan Schulte, wurde nach zwei Prozesstagen wegen „gefährlicher Körperverletzung“ an dem damaligen, in Folge des Übergriffs berufsunfähigen Tänzer des Kieler Opernhauses Claudiu C., zu einer Gefängnisstrafe von 28 Monaten ohne Bewährung verurteilt. Er hatte diesen am 18. April 2009 in der Kieler Innenstadt aus einer Gruppe von etwa 30 Neonazis heraus aus rassistischen Motiven brutal niedergeschlagen. Zuvor waren die Neonazis durch das Eingreifen von Antifaschist_innen an einem Angriff auf einen Infostand des Runden Tisches gegen Rassismus und Faschismus gehindert worden. Das Landgericht verkürzte in seinem Urteil die am 5. Juli 2010 die in erster Instanz vorm Amtsgericht festgelegte Gefängnisstrafe, gegen die der Betroffene C. in Berufung gegangen war, um vier Monate. Hintergrund ist die Einigung der jeweiligen Anwälte des Betroffen und Nebenklägers Claudiu C. und des Täters Christopher R. auf ein vorläufiges Schmerzensgeld von 20.000€ plus Folgekosten. Die Verhandlung über eine monatliche Rente wegen Claudius Berufsunfähigkeit steht noch aus. R. ist mittlerweile trotz der einvernehmlichen Übereinkunft in Revision gegen das Urteil gegangen.

Bereits am 12. Mai 2011, dem ersten Prozesstag des Berufungsverfahren sagte neben dem langjährigen lokalen NPD-Funktionär und ebenfalls zwischenzeitlichen “AG Kiel”-Mitglieds Peter von der Born, der wieder einmal vor Gericht obligatorisch seinen vermeintlichen Rückzug aus der rechten Szene verkündete, auch der Täter und jahrelange Neonazi Christopher R. aus, der in Kiel zuletzt durch seine Aktivität bei der “AG Kiel”-Generation von 2008/09 in Erscheinung getreten ist. Nachdem er in seiner Aussage in erster Instanz noch den Neonazi-Aussteiger gemimt hatte, waren seine diesmal zu Protokoll gegebenen Angaben undurchsichtiger. R. ging dabei ausführlich auf Stationen seiner Neonazi-Karriere ein.

Von Berlin über Bredenbek nach Kiel

Der am 22. Januar 1987 gebürtige Berliner und gelernte Maler gab an, mit 13 Jahren in Berlin in Kontakt mit neonazistischer Musik und einer dort fest verankerten rechten Jugendkultur gekommen zu sein. Nach Schleswig-Holstein sei er mit 14 Jahren durch einen vierjährigen Aufenthalt in einem Bredenbeker Jugendheim gekommen, wo er nach eigenen Angaben als Reaktion auf seine Zugehörigkeit zur rechten Szene landete.

Auf der jährlichen Massenveranstaltung „Kieler Woche“ habe er später erste Kontakte zur Kieler Neonazi-Szene geknüpft, die er nach seinem Umzug in die Landeshauptstadt 2005 während einer gemeinsamen Fortbildungsmaßnahme des Arbeitsamtes intensivieren konnte, die er gemeinsam mit dem schon seit den 1990ern als Neonazi-Aktivist bekannten Mario Hermann absolvierte. Mit diesem habe er fortan an gemeinsamen Trinkgelagen der rechten Szene teilgenommen. Hier habe er auch besagten NPD-Aktivisten Peter von der Born als Integrationsfigur in das politisch aktive Neonazi-Spektrum kennengelernt, über den er darauf erstmalig an einem Aufmarsch in Hamburg teilgenommen habe.

…auf die NPD-Wahlliste und zur Nazi-Gewalt

Zur Kieler Kommunalwahl im April 2008 tauchte R. – neben zahlreichen weiteren sogenannten freien Neonazis – auf der Wahlliste der NPD als Kandidat auf. Zu diesem Schritt habe ihn der damalige „Aktionsgruppe Kiel“-Aktivist Niels Hollm bewogen. Die „AG“ habe von der NPD als Gegenleistung für das personelle Auffüllen ihrer Liste finanzielle Unterstützung erhalten. Zu der in selbigen Zeitraum fallenden ersten Welle von nächtlichen Angriffen auf (vermeintliche) linke und alternative Läden in Kiel belastete R. vor Gericht namentlich den Neonazi Thomas Krüger als Verantwortlichen für die Sachbeschädigungen an vor der Alten Meierei geparkten Fahrrädern in der Nacht zum 17. April 2008 – seinerzeit ebenso „AG Kiel“-Mitglied und NPD-Listen-Lückenfüller.

Desweiteren habe sich R. in der Anti-Antifa-Arbeit, d.h. dem Abfotografieren von antifaschistischen Gegendemonstrant_innen, am Rande des jährlichen Neonazi-„Trauermarsches“ in Lübeck versucht.

Bezüglich des Ablaufs des 18. April 2009, dem Tag des Übergriffs auf Claudiu C., an dem schleswig-holsteinische Neonazis ursprünglich eine Kundgebung in Gaarden geplant hatten, die jedoch bereits im Vorfeld durch eine starke Antifa-Mobilisierung verhindert werden konnte, sagte R. aus, dass die Szene zuvor intern mittels SMS und Telefonaten mobilisiert habe. Nachdem 30-40 Neonazis am Vormittag des betreffenden Samstags keine Kundgebung durchsetzen konnten, hätten sich diese zunächst in die Stadtteile Russee und Wik zurückgezogen. Gegen Nachmittag sei R. wiederum telefonisch zu einem Treffpunkt in der Innenstadt bestellt worden. Eine wichtige Rolle bei der Koordination der Aktion spielte offenbar die „AG Kiel“-Führungsperson Thomas Breit, von der R. wenig später nochmals per Telefonanruf vor antifaschistischen Gegendemonstrant_innen in unmittelbarer Nähe ihres Treffpunktes am Rathausplatz gewarnt wurde. „Zöllner und von der Born“ hätten mit diesen „schon Ärger gehabt“. Er selbst habe beim Eintreffen in der Innenstadt in einem nicht-geschlossenen Rückzug vor einem „Riesenmob“ von Antifaschist_innen flüchten müssen.

Seinen brutalen Übergriff auf Claudiu C. nahe des Opernhauses einige Zeit später, als sich die dortige Lage längst beruhigt hatte, stellte R. als eine reflexhafte Abwehrreaktion in einem allgemeinen Bedrohungsszenario dar. Diese Darstellung ist jedoch in Anbetracht des tatsächlichen Tathergangs, bei dem er den Betroffenen von hinten mit Anlauf niederschlug und anschließend triumphierend in Richtung anderer Neonazis gestikulierte, in keinster Weise haltbar. Für glaubhaftes empathischem Empfinden oder gar Reue gegenüber Claudiu C., dessen Leben seither grundlegend durch bleibende Schäden beeinträchtigt ist, waren bei R. trotz mehrfachen Nachfragens durch seinen Anwalt keine Anzeichen zu erkennen.

Von der Schwierigkeit des Szeneausstiegs, rechten Weltbildern und fehlender Kameradschaft

Hatte R. während der Verhandlung in erster Instanz noch seinen Ausstieg aus der rechten Szene betont, waren seine Ausführungen diesmal zweideutiger und streckenweise bruchstückhaft. Einige Nachfragen diesbezüglich verweigerte sein Anwalt mit der Begründung, dass R. Angst vor der Rache ehemaliger Neonazi-Mitstreiter habe, die heute verstärkt im sogenannten Rockermillieu aktiv sind. Auch R. war an einer schweren Auseinandersetzung der „AG Kiel“ mit Mitgliedern der „Hells Angels“ vor dem Kieler Amtsgericht unter Federführung des heutigen „Bandidos“-Mitglieds und langhjährigen Neonazi-Kaders Peter Borchert im August 2008 beteiligt gewesen.

Seinen Rückzug aus der aktiven Neonazi-Szene begründete R. indes nicht mit einer Abkehr von ihrer menschenverachtenden Ideologie, in der er sich z.B. beim Lesen des springerschen Boulevard-Blatts BILD oder durch die rassistische „Sarrazin-Debatte“ bestätigt sehe, sondern durch das Auseinanderklaffen von Anspruch und Realität innerhalb der Neonazi-Szene. So beklagte R. u.a. das in rechten Kreisen weit verbreitete Frequentieren us-amerikanischer Fast-Food-Ketten, das Pflegen sozialer Kontakte zu „Ausländern“, das Handeln mit Drogen und vor allem die mangelnde Solidarität im Zusammenhang mit dem juristischen Nachspiel seines Übergriffs. Stattdessen habe man sich über ihn lustig gemacht.

Dennoch habe er weiterhin Kontakte zu einzelnen Neonazis, da „so ein Ausstieg“ laut seines Anwalts für einen langjährigen Neonazi „nicht so einfach sei“. Zudem sei R. von einem staatlichen Aussteigerprogramm abgewiesen worden. Neben Berührungspunkten im Arbeitsalltag, sei von seinem einstigen Umfeld vor allem die Verbindung zu Peter von der Born erhalten geblieben, mit dem er öfters im Kieler Umland auf „Schatzsuche“ nach Weltkriegs-Devotionalien ginge.

Ein Haufen Elend mit hohem Bedrohungspotential

Da antifaschistische Prozessbeobachter_innen die dargestellten Angaben R.s zu seiner Neonazi-Biographie – jedoch ausdrücklich nicht zum konkreten Tathergang – als weitestgehend glaubwürdig bewerten und sie bisherigen Erkenntnissen von Antifaschist_innen nicht widersprechen, haben wir uns entschieden, diese an dieser Stelle als Erkenntnis bringenden Einblick in die lokalen Neonazistrukturen weiterzuveröffentlichen.

Insgesamt lässt sich von der Person Christopher R. derzeit das Bild eines durch seine frühe und langjährige Zugehörigkeit zu Neonazi-Kreisen in den Grundannahmen rechter Ideologie gefestigten, von seinen Weggefährten in der Szene persönlich und politisch enttäuschten, trotz vereinzelter verbliebener Kontakte sozial weitestgehend isolierten und daher im organisierten Neonazismus derzeit nicht mehr aktiven Neonazis zeichnen.

Von der aktiven Kieler Neonaziszene bestätigte sich einmal mehr das Bild eines personell überschaubaren und zu organisatorischem Dilettantismus neigenden Haufens, der sich über einen rechten subkulturellen Szenesumpf rekrutiert, wobei langjährige Aktivisten eine Schlüsselrolle spielen. Die vielbeschworene „Kameradschaft“ ist bei diesem vielmehr als ein inhaltsloses Label, denn als konsequente Praxis zu verstehen und die Wege von der menschenverachtenden Neonazi-Politik zu skrupelloser Geschäftemacherei sind wie gehabt kurz.

Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die der von ihnen transportierten neonazistischen Ideologie innewohnende Aggression gegen alle diejenigen, die nicht ihrem rassistischen, antisemitischen und nationalistischen Weltbild entsprechen oder sich ihnen entgegen stellen, immer wieder auch die konkrete Bedrohung der Gesundheit oder sogar des Lebens von Menschen bedeutet. Dies hat der Fall Claudiu C. wieder einmal auf drastische und folgenschwere Art und Weise vor Augen geführt.

Redebeitrag auf der Bündnis-Demo gegen Nazigewalt am 2.7.2010

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen!

Wir sind heute gemeinsam auf der Straße, um unserer Solidarität mit Claudiu C. öffentlich und unübersehbar Ausdruck zu verleihen. Claudiu wurde am 18. April 2009 vorm Kieler Opernhaus aus einer Horde von Neonazis heraus brutal niedergeschlagen, nachdem zuvor ein Angriffsversuch derselben Gruppe auf eine antifaschistische Kundgebung in der Innenstadt erfolgreich abgewehrt werden konnte. Claudiu wurde an diesem Tag lebensgefährlich verletzt und kann seitdem seinen Beruf als Tänzer nicht mehr ausüben. Am Dienstag findet die Gerichtsverhandlung gegen den Täter, den langjährigen Kieler Nazi-Aktivisten Christopher Rüdiger, statt. Wir wünschen Dir, Claudiu, von ganzem Herzen, dass das Ergebnis des anstehenden Prozesses in deinem Sinne sein wird und wollen Dir – nicht zuletzt mit der heutigen Demonstration – Kraft mit auf dem Weg geben, das Aufeinandertreffen mit dem Neonazitäter Christopher Rüdiger am Dienstag ohne größere Unannehmlichkeiten zu meistern und auch darüber hinaus, weiterhin einen Umgang mit dem Dir Angetanen zu finden.

Der Nazi-Übergriff auf Claudiu war nicht völlig willkürlich, er war – so die realistischen Einschätzungen – rassistisch motiviert. Claudiu passte wegen seiner Haarfarbe oder welcher Nebensächlichkeit auch immer in das Feindschema des Nazimobs. Der Übergriff passierte nicht etwa, weil der Neonazitäter Christopher Rüdiger verrückt ist oder er gar von Natur aus auf brutale Gewalt steht, sondern weil er einer Ideologie anhängt, die genau darauf abzielt:
Der rassistische, antisemitische und nationalistische Wahn des historischen wie des gegenwärtigen Nationalsozialismus wollte und will nichts anderes als Gewalt, Unterdrückung bis hin zur Vernichtung von Menschen, die sie aufgrund irgendwelcher irrational festgelegter, oftmals körperlicher Merkmale für minderwertig halten. Der Übergriff auf Claudiu war also keine x-beliebiger Fall von Gewaltausübung gegen Menschen, sondern er war Ziel eines grundfalsches Menschenbilds. Dieses grundfalsche Menschenbild der Nazis und aller anderen RassistInnen, welches immer wieder die Ursache von Übergriffen und anderer Gewalt ist, wie die Akteure, die es vertreten, gilt es deshalb zu bekämpfen – alltäglich und auf allen Ebenen.

Der Übergriff auf Claudiu war einer von vielen Fällen rechter Gewalt in Kiel in den letzten Jahren, wenn auch der wohl schwerwiegendste. Verantwortlich hierfür ist – wie bekannt – eine relativ kleine, politisch einflusslose aber schubweise – z.B. gegenwärtig – immer wieder recht aktive Neonaziszene, die sich organisatorisch aufteilt auf den lokalen NPD-Kreisverband und die eng mit ihm kooperierende sogenannte „Aktionsgruppe Kiel“. Während ersterer größtenteils aus teilweise langjährigen Parteisoldaten besteht, ist die „AG Kiel“ ein mehrheitlich aus jungen Neonazis zusammengesetzter Haufen mit hoher Fluktation, aber auch einigen wenigen tonangebenden Konstanten, der sich durch teilweise strategisch fragwürdigen Aktivismus und ein hohes Aggressionspotential auszeichnet. Die aktuelle Besetzung des AG Kiel-Umfelds rekrutiert sich schwerpunktmäßig aus Jugendlichen aus Kieler Vororten nördlich des Kanals. Sie werden von den wenigen verbliebenen älteren Neonazis offen angeleitet, die in den vergangenen 2-3 Jahren organisatorische und aktivistische Erfahrungen sammeln konnten.

Wenn wir die sich wiederholenden Fälle von neonazistischer Gewalt zurückdrängen wollen, müssen wir mit vereinten Kräften dafür sorgen, dass deren Ausgangspunkt, die Naziszene in Kiel und Umland , durch eine offensive alltägliche antifaschistische Praxis am wachsen gehindert und stattdessen zum Bröckeln gebracht wird. Zum größtmöglichen Schutz vor Naziaggressionen setzen wir auf eine breite antifaschistische Bewegung, d.h. auf eine Vielzahl von unterschiedlichen Menschen, die in der Lage sind, aus einem emanzipatorischen Selbstverständnis heraus zu jeder Zeit und an jedem Ort selbstständig und selbstbewusst Nazis im Alltag zu widersprechen und zu widerstehen. Das beinhaltet die stetige Aufklärung über Naziaktivitäten und -strukturen genauso, wie der gemeinsame Ausdruck dieses Willens auf der Straße, wie wir ihn hier heute zum wiederholten Male mittels unserer Demo formulieren. Vor allem heißt das aber, alltäglich und spontan bereit zu sein, Verantwortung zu übernehmen und nicht auf Aufrufe organisierter AntifaschistInnen zu warten: Lasst nicht zu, dass Nazis ungestört in der Öffentlichkeit auftreten können! Verweigert und entsorgt ihren braunen Müll! Übertönt ihr widerliches Gerede! Reißt ihre Aufkleber ab! Übermalt ihre Parolen! Outet, bedrängt und vertreibt die dafür verantwortlichen Akteure! Habt ein Auge auf von Naziangriffen gefährdete Läden!

Leider sind wir uns darüber bewusst, dass wir durch ein solches Agieren die Nazis im besten Fall und nur phasenweise klein halten können, indem wir ihre Spielräume einschränken. Daran, dass eine kaputte, auf Ausbeutung, Unterdrückung und Konkurrenz basierenden Gesellschaft wie die der bürgerlich-kapitalistischen BRD auch immer kaputte Leute wie z.B. Nazis hervorbringt, werden wir auf diese Weise nichts ändern können. Dass es zu rassistischen Übergriffen, zu Angriffen auf Linke und zur Verbreitung von Vernichtungs- und Ausgrenzungsideologien kommt, werden wir innerhalb dieser Verhältnisse – die es nicht nur aus diesem Grund zu verändern gilt – leider niemals verhindern können. Wir können uns aber bemühen, damit den bestmöglichen Umgang finden. Neben bereits genanntem, schließt dies natürlich ganz zentral die praktische Solidarität mit Betroffenen von Nazigewalt mit ein. Diese Solidarität drücken wir heute – nicht zum ersten mal – symbolisch aus und am Dienstag werden wir Claudiu solidarisch im Gerichtssaal unterstützen.

Wir denken, dass die heutige Demonstration wie auch die zahlreichen vergangenen großen antifaschistischen Mobilisierungen gezeigt haben, dass wir in Kiel großes Potential haben, der Neonaziszene und ihrer Gewalt selbstbewusst und erfolgsversprechend entgegenzutreten, wie die seit vielen Jahren unzähligen erfolgreichen antifaschistischen Aktivitäten auch ganz praktisch unter Beweis gestellt haben. Dieses Potential gilt es weiterhin zu nutzen und auszubauen.


Also: Schließt Euch in Euren Umfeldern zusammen, bietet den Nazis mit Euren Mitteln auf Euren Ebenen die Stirn!

Stärkt die bestehenden antifaschistischen Strukturen in dieser Stadt!

Haltet täglich die Augen offen und reagiert auf rassistischen, antisemitischen und nationalistischen Dreck jeglicher Art – überall!

Und niemals vergessen: Übt antifaschistische Solidarität – mit Claudiu und allen anderen betroffenen rechter Gewalt!

Redebeitrag zum Tag der Befreiung, Antifa-Kundgebung in Kiel am 8.5.2010

Liebe Kieler und Kielerinnen,
liebe Antifaschisten und Antifaschistinnen!
Wir haben uns hier heute in der Kieler Innenstadt versammelt, um an eines der zentralsten Ereignisse der Zeitgeschichte zu erinnern: Denn vor genau 65 Jahren, am 8. Mai 1945 kapitulierte das nationalsozialistische Deutsche Reich bedingungslos vor den Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Deutschland war endlich von den Truppen der Anti-Hitler-Koalition eingenommen, nachdem dem deutschen Vernichtungskrieg in ganz Europa und dem industriellen Massenmord in den Konzentrationslagern der Nazis Abermillionen Menschen zum Opfer gefallen waren. Die Herrschaft des Nationalsozialismus war am 8. Mai 1945 nach 12 Jahren des Terrors gegen Juden und Jüdinnen, die Bevölkerung Osteuropas, politische GegnerInnen, insbesondere KommunistInnen und SozialdemokratInnen, Sinti und Roma, Homosexuelle, sogenannte „Asoziale“ und alle anderen, die nicht dem nationalsozialistischen Weltbild entsprachen oder sich widersetzten, zerschlagen. Der 8. Mai 1945 war für alle Menschen, die noch von der Mord- und Unterdrückungsmaschinerie Nazideutschlands bedroht waren und für alle, die in Gegnerschaft zu ihr standen, ein Tag der Befreiung. Wie viele Menschen weltweit sagen auch wir heute, am 65. Jahrestag der Befreiung: Spasibo – Thank you – Merci – Danke und verneigen uns respektvoll vor den KämpferInnen der Anti-Hitler-Streitkräfte, den antifaschistischen PartisanInnen, den Aufständischen im Warschauer Ghetto, dem Häftlingswiderstand in den Konzentrationslagern, den UntergrundaktivistInnen der antifaschistischen Minderheit in Nazideutschland und allen anderen, die mit vereinten Kräften die deutsche Kapitulation herbeigeführt haben. Doch war diese mindeste Geste, die wir für Selbstverständlich halten, der bloße Dank gegenüber den Befreiern oder gar das Ziehen der naheliegenden politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen aus dem deutschen Massenmord infolge des 8. Mai 1945 eine Selbstverständlichkeit im Nachkriegs-Deutschland? Mitnichten! Und erst recht nicht in Schleswig-Holstein. Ein Blick in die Geschichte der postfaschistischen BRD und insbesondere ihres nördlichsten Bundeslandes verdeutlicht dies.

 

Schleswig-Holstein wurde Anfang Mai als eine der letzten verbliebenen Bastionen Nazideutschlands von britischen Truppen befreit. Lübeck erreichten diese am 2. Mai, der kriegswichtige Marinestandort Kiel folgte zwei Tage später kampflos. Mit der Kapitulation am 8. Mai war der NS-Mustergau Schleswig Holstein, wo die NSDAP schon überdurchschnittlich früh überdurchschnittlich hohe Wahlergebnisse erreichte, nahezu unter alliierter Kontrolle – mit Ausnahme Flensburg-Mürwiks, wo sich die nationalsozialistische Regierung Dönitzs noch zwei Wochen verschanzt hielt.
Mit ihr, darunter auch der Hauptorganisator der Shoa Heinrich Himmler, kamen in den letzten Kriegswochen zahlreiche Nazigrößen und Karrieristen in den Norden. Sie ließen sich, teils unter neuer Identität, nieder oder versuchten, von hier aus ihre Flucht zu organisieren. Ebenso siedelten gegen und nach Ende des Krieges über eine Million Flüchtlinge aus den ehemals zu Deutschland gehörenden und heutigen polnischen und russischen Gebieten in Osteuropa nach Schleswig-Holstein über. Teils um den Vergeltungsmaßnahmen der Roten Armee zu entgehen, teils weil es die infolge des Krieges veränderten Grenzverläufe erforderten.
Mit dem 8. Mai war zwar auch in Schleswig-Holstein die politische Herrschaft der NSDAP und ihres Staates vorüber, dennoch sollte sich die brisante Mischung aus hier sesshaft gewordenen Eliten Nazideutschlands, zum Revanchismus und Geschichtsrevisionismus neigenden Umgesiedelten und der Bevölkerung der langjährigen Nazihochburg auch nach 1945 nachhaltig auf die politische Kultur zwischen Nord- und Ostsee auswirken. Dass diese alles andere als durch eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der uneingeschränkten deutschen Schuld an Massenmord und Krieg geprägt sein sollte, zeigte sich an vielerlei Beispielen: Nicht nur im Landtagswahlergebnis 1950, bei dem der NS-relativierende „Block der Heimatvertiebenen und Entrechteten“23,4% der Stimmen erlangte – dieser ging übrigens später in der CDU auf! – oder in der Tatsache, dass die sodann gebildete Landesregierung fast ausschließlich aus ehemaligen NSDAP-Mitgliedern bestand; sondern auch darin, dass Massenmörder wie der Leiter des NS-Euthanasieprogramms Werner Heyde gedeckelt von der schleswig-holsteinischen Elite unter dem Phantasienamen Sawade weiter Karriere als Arzt machen konnten, während die Opfer des Naziterrors vielfach vergeblich um ihre Entschädigungsansprüche kämpfen mussten. Dass alte Nazifunktionäre auch in der postfaschistischen BRD wieder in den Spitzenpositionen saßen, war keine schleswig-holsteinische Besonderheit. Wie offen und unwidersprochen dies geschah, dagegen schon. Unter solchen Voraussetzungen verwundert es wenig, dass eine Auseinandersetzung mit der eigenen Nazivergangenheit auf der offiziellen Ebene, insbesondere im konservativen Lager, bis in die 1980er nicht stattfand. Bis dahin übte man sich in entsprechenden Kreisen darin, die Schuld der Deutschen zu relativieren und maximal auf eine kleine verbrecherische Naziclique zu reduzieren und das vermeintliche Leid so bezeichneter „deutscher Opfer“ zu betrauern. Als Lehre aus dem NS wurde vielerorts ausgerechnet die unbedingte Verfassungstreue und – ganz im Sinne der Demagogie des Kalten Krieges und seiner Totalitarismustheorie – das Weiterkultivieren des nationalsozialistischen Antikommunismus in Form der ideologischen und damit undifferenzierten Hetze gegen die realsozialistischen Staaten des Ostblocks und alles Linke verstanden. Die Absurdität dieser Schlussfolgerung verdeutlichte sich in der Tatsache, dass ehemalige antifaschistische Verfolgte, vor allem KommunistInnen, nur wenige Jahre nach Ende der Naziherrschaft insbesondere im Zuge des KPD-Verbots 1956 wieder von massiver staatlicher Repression betroffen waren; nicht selten durchgeführt von den zahlreichen im Amt gebliebenen ehemaligen Nazirichtern. Der 8. Mai 1945 wurde dagegen in weiten Teilen des politischen Mainstreams, gerade auch in Schleswig-Holstein, noch lange als „Niederlage“ oder „Katastrophe“ bewertet. In diesem Sinne bekämpfte die etablierte Politik noch Anfang der 1980er offen antifaschistische Geschichtsinitiativen, die endlich mit der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein begannen. Hört man sich die gegenwärtigen Verlautbarungen von offizieller Seite an, fällt auf, dass sich das Vokabular des herrschenden Diskurses zum 8. Mai ohne Zweifel gewandelt hat. Spätestens mit der Rückkehr Deutschlands auf die Bühne internationaler Großmächte nach der Wiedervereinigung setze sich diese Tendenz durch. Auch an der schleswig-holsteinischen Provinz ist dies nicht vorbei gegangen. Die Kriegsschuld der Deutschen, die Singularität der Shoa und die Verwicklung überwiegender Teile der deutschen Bevölkerung in die NS-Mordmaschine sind im Gegensatz zu konservativen Verlautbarungen aus den 1980ern zumindest als Worthülsen weitestgehend im politischen Mainstream anerkannt. Paradoxerweise erfüllen sie damit aber zugleich den Zweck, sich nicht den logischen Konsequenzen aus diesen unumstritten richtigen Erkenntnissen zu stellen. Man gibt sich im wiedererstarkten Deutschland 2010 als selbsternannte „geläuterte Nation“, die aus ihrer Vergangenheit gelernt habe und gerade deshalb eine besondere Verantwortung in der Welt trage: Der rot-grüne Angriffskrieg der Bundeswehr auf Jugoslawien, mit dem 1999 erstmals seit 1945 deutsche Machtinteressen auf dem Balkan durchgebombt wurden, wie auch die darauf folgenden deutschen Kriegseinsätze, wurden mit der Begründung nicht trotz, sondern wegen Auschwitz, propagandistisch möglich. Und nicht zuletzt sieht sich die möchtegern-geläuterte Bundesrepublik gerade deshalb in der Berechtigung, nun endlich einen Schlussstrich unter seine Nazigeschichte ziehen zu können, wieder Stolz auf den schwarz-rot-gelben Wimpel sein zu dürfen und der angeblich „vergessenen deutschen Opfer“ zu gedenken. Und ganz in diesem Sinne wird erinnerungspolitisch der Fokus dieser Tage vor allem auf die Abrechnung mit der so bezeichneten „zweiten deutschen Diktatur“, womit dann die realsozialistische DDR gemeint sein soll, gelenkt. Dass gerade aktuell verstärkt auch wieder der altbekannte deutsche Antikommunismus in Form der Ideologie des „Antiextremismus“ aufgefrischt zurück auf die Tagesordnung des herrschenden Diskurses geschmissen wird, macht den Akt des Verdrängens der mörderischen deutschen Geschichte durch die Hintertür perfekt. Wir als Antifaschist/-innen sehen keinen Anlass und keine Berechtigung dafür, uns auch nur ansatzweise in den Chor der möchtegern-geläuterten Schlussstrichzieher einzureihen. Die Vernichtung des Faschismus und seiner Wurzeln bleibt unser Ziel! Aus unserem Bezug auf den 8. Mai 1945 leiten wir zentrale Verpflichtungen für das hier und jetzt ab. Die unumstrittene Pflichtübung ist selbstverständlich der unversöhnliche Kampf gegen den offenen Neonazismus. Insofern erinnern wir uns gerne an das vergangene Jahr zurück, als 200 AntifaschistInnen am 8. Mai 2009 genau hier erfolgreich einen geschichtsverdrehenden Propagandastand von einem Häuflein Neonazis erfolgreich zum vorzeitigen Abbruch zwangen.
Eine viel aufwändigere Verpflichtung antifaschistischer Kämpfe allerdings resultiert aus dem Umstand, dass am 8. Mai 1945 zwar die Herrschaftsstrukturen des NS-Staates beseitigt wurden, ein umfassendes gesamtgesellschaftliches Problembewusstsein für die Grundlagen des Nationalsozialismus, eine breite Auseinandersetzung mit ihnen und die daraus zu ziehenden Konsequenzen, dagegen bis heute ausgeblieben sind.
Auf lokaler Ebene schlägt sich dieses Versäumnis – das sein am Rande erwähnt – nicht zuletzt auch in der unerträglichen Berichterstattung der allseits bekannten Kieler Nachtrichten über besagte Aktion nieder, die – wir zitieren den unglaublichen Originalwortlaut – von einem „Infostand der Rechten“, „auf dem etliche Informationsblätter lagen“ weil „vor 64 Jahren […] am 8. Mai der Zweite Weltkrieg [endete]“, auf den „Mitglieder des Runden Tisches gegen Rassismus und Faschismus versuchten, mit Lautsprecherdurchsagen […] aufmerksam zu machen“ (!) (KN-online, 8.5.09)“ schwafelte. Für uns ist unbestreitbar: Es war eben höchstens am Rande die magische „Verführungskraft“ einer mystischen „teuflischen Machtclique“, die den NS möglich machte, sondern in allererster Linie der völkische Antisemitismus, der Rassismus, der chauvinistische Nationalismus, der Hang zum Autoritarismus und Militarismus, der Untertanengeist und der Hass auf gesellschaftliche Befreiung und Gleichheit, die allesamt seit Konstruktion der Nation im 19. Jahrhundert fest in der Identität der Deutschen verankert sind. All diese ideologischen Grundlagen ermöglichten, dass eine deutsche Mehrheitsbevölkerung den Nationalsozialismus trug und seine Beseitigung militärisch von außen durchgesetzt werden musste. Diese Elemente wachsen auch heute noch unvermeidbar in der Mitte der bürgerlich-kapitalistischen BRD-Gesellschaft: Unumgänglich basiert diese wie gehabt auf Unterdrückung und Ausbeutung, die Schuld an diesem unbewusst selbstverschuldeten Elend schreibt sie jedoch, anstatt den irrationalen Verhältnissen, laufend vermeintlich außerhalb der Gesellschaft stehenden Feindbildkonstruktionen zu; seien diese nun „faule Arbeitslose“, „linke ExtremistInnen“ „terroristische Muslime“, „unkontrollierte afrikanische Flüchtlingsströme“ oder „das raffende Kapital von der us-amerikanischen Ostküste“.
Die in kürzester Zeit entwickelbare potentielle Vernichtungskraft bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften gegen diese immer wieder herbeihalluzinierten Feindbilder ist und bleibt, gerade in Zeiten kapitalistischer Krisen wie der gegenwärtigen, eine reelle Bedrohung für die Menschlichkeit. Den 8. Mai zu feiern heißt für uns: Das Gedenken an den millionenfachen Massenmord Nazideutschlands wach halten, den Kampf gegen alle neofaschistischen Strukturen im Hier und Jetzt unnachgiebig fort führen und mit Nachdruck an der emanzipatorischen Überwindung bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse und ihres Vernichtungspotentials arbeiten! Nicht nur am 8. Mai: Feiern – Gedenken – Antifaschistisch kämpfen! Für die Fortführung der Befreiung der Menschheit vom Faschismus mitsamt seiner Wurzeln!

Zapata Buchladen in Kiel erneut angegriffen und beschädigt

Erneut wurde der Buchladen Zapata in Kiel Ziel einer nächtlichen Attacke. Am Morgen des 18.2.10 wurden zwei große Scheiben mit Steinen eingeworfen. Erneut wurde damit ein linkes Projekt in Kiel angegriffen, was uns in unserer Intention, diese Verhältnisse mit der Demonstration am 13.3. zu thematisieren nur noch einmal bestärkt.
Wir dokumentieren die Pressemitteilung vom Buchladen Zapata:
*Überfall auf den Buchladen Zapata*
Am frühen Morgen des 18.02.2010, gegen 4 Uhr, wurden zwei Schaufensterscheiben des alternativen Buchladens Zapata im Jungfernstieg in Kiel eingeworfen. Die noch unbekannten Täter benutzten dafür kleine
Betonplatten und flohen offenbar sofort. Gegen 6 Uhr benachrichtigte ein Passant die Polizei, die vor Ort aber keine weiteren Spuren finden konnte.
Seit vielen Jahren ist der Buchladen Zapata immer wieder Ziel von Angriffen aus der Kieler Naziszene. Zuletzt häuften sich die Vorkommnisse: schon im April 2008 und im Februar 2009 wurden die Scheiben des Ladens eingeworfen. Mittlerweile gehen auch die Behörden stark davon aus, dass die Angriffe aus der Naziszene stammen.
Der breite antifaschistische Protest gegen den rechten Aufmarsch zur Erinnerung an die Bombardierung Dresdens im Februar 1945, der zu einem kümmerlichen Ergebnis für die Nazis führte, könnte Anlass für diesen
neuerlichen Angriff gewesen sein. Enttäuscht über ihren Misserfolg riefen Nazis auf einschlägigen Internetseiten zu lokalen Einzelaktionen auf – wie möglicherweise dieser Vorfall.
Dennoch ist dieser Überfall kein Einzelfall und steht im Zusammenhang mit sich häufenden Aktionen der kleinen, aber aktiven Nazigruppierung in Kiel, die der NPD und den „Autonomen Nationalisten“ nahe steht. In den
letzten zwei Jahren wurden verschiedene alternative Projekte und Privathaushalte Ziel der rechten Angriffe: ein Wiker Wohnprojekt, die Hansastraße 48, die Alte Meierei (vor wenigen Wochen erst Ziel eines Angriffs mit einer Schusswaffe), eine Rechtsanwaltskanzlei und ein Treff- und Kommunikationspunkt in Gaarden sind Beispiele. Dies beweist die besorgniserregende Zunahme rechter Gewalt in Kiel und im Kieler Raum, wie sie auch von Beispielen aus der gesamten BRD widergespiegelt wird, und gegen die dringend mehr getan werden muss als es bisher der
Fall war.
Kiel, der 23.02.2010 (us)

20. Juli: Neonazis aus Schleswig-Holstein halten Kundgebung beim Landeshaus ab

Nachdem eine für Freitag geplante Nazi-„Mahnwache“ anlässlich der aktuellen parlamentarischen Beziehungskrise der Landesregierung vor dem Landeshaus kurzfristig von dem Kieler Ratsherr Hermann Gutsche wieder abgemeldet wurde, zeigte sich gestern, dass es sich dabei nur um eine terminliche Verlegung gehandelt hatte.
Etwa 20 NPDler/-innen, „Autonome Nationalisten“ und sonstige Faschist/-innen aus ganz Schleswig-Holstein, darunter der schleswig-holsteinische NPD-Bundestagswahlkandidat und langjährige Nazikader Thomas Wulff, tauchten am späten Vormittag des 20. Juli 2009 nahe des Landeshauses auf und jammerten über einen Lautsprecherwagen im Stile von „Ist der Carstensen kriminell – muss er aus dem Amt ganz schnell!“ rum.
Im Gegensatz zu letztem Freitag, wo sich nach spontaner Mobilisierung vorsorglich über 60 Antifaschist/-innen versammelt hatten, um auf die dann abgesagte Naziaktion zu reagieren, kam es gestern leider zu keinen nennenswerten antifaschistischen Gegenmaßnahmen, wogegen die Polizei mit einem größeren Aufgebot auf einen solchen Fall vorbereitet schien.
Der gestrige Auflauf kann als eine Aktion im Rahmen des bevorstehenden Bundes- und Landtagswahlkampf der NPD in Schleswig-Holstein gewertet werden und machte deutlich, dass mit einer engen Kooperation der neonazistischen Strömungen von NPD über die „AN“-Szene bis hin zu erfahrenen Nazikadern wie Thomas Wulff zu rechnen ist. Antifaschist/-innen sollten sich Gedanken machen, wie mit den weiteren zu erwartenden öffentlichen Auftritten von Nazis, vor allem auch in Kiel, adäquat umzugehen ist.