Seit einigen Monaten entwickelt sich der Kieler Norden zu einem Brennpunkt neonazistischer Aktivitäten in Kiel. Nachdem im Jahr 2009 vor allem die Wik, bedingt durch die Ansässigkeit einiger aktiver Nazis aus dem Umfeld der „Aktionsgruppe Kiel“ und deren offenen Bestrebungen, junge Menschen für ihre faschistischen Ansichten zu gewinnen, ein örtlicher Schwerpunkt von Nazipropaganda und -übergriffen war, hat sich diese Entwicklung jetzt weiter nördlich des Kanals verlagert.
In den Stadtteilen Friedrichsort, Pries und Holtenau tritt seit einiger Zeit eine Gruppe junger Neonazis verstärkt in der Öffentlichkeit auf. Diese orientieren sich am Stil der selbsternannten „autonomen Nationalisten“ und fallen vor allem durch massives verbreiten von faschistischen Aufklebern, Plakaten und Sprühereien auf – jedoch auch durch Übergriffe und Bedrohungen von Menschen, die nicht in ihr Weltbild passen oder sich gegen die Neonazis wehren. Der jüngste rassistische Angriff ereignete sich in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember, als in Friedrichsort ein Bäckereiladen verwüstet und mit Hakenkreuzen beschmiert wurde. Dabei ist ein hoher Sachschaden entstanden und die Betreiberin berichtete zudem auch von anderen Übergriffen auf sie und andere ausländische Geschäftsleute.
Nachdem im letzten Jahr immer wieder einzelne unbekannte junge Neonazis bei Aktionen der Kieler NPD und der „Aktionsgruppe Kiel“ dabei waren, stellte sich heraus, dass einige dieser Nachwuchsnazis aus eben jenen Stadtteilen nördlich des Kanals kommen und hier mittlerweile offensichtlich auch Leute aus ihrem privaten Umfeld für ihre verdrehte Weltsicht gewinnen konnten. So scheint es, als wäre mit der Zeit in Friedrichsort eine ganze Clique von etwa 10-15 Jugendlichen zu den Neonazis übergelaufen, von denen wiederum einige in räumlicher Nähe zusammen in der so genannten „Roten Siedlung“ wohnen. Hier wird auch gerne zusammen mit anderen Kieler Neonazis gefeiert, sei es in den Wohnungen der Nazis oder am Friedrichsorter Skagerrakufer, wo es immer wieder zu Belästigungen durch das Grölen von Naziparolen und -liedern kommt.
Einige dieser jungen Nazis sind gerade einmal 15 oder 16 Jahre alt, doch das hält sie nicht davon ab, zusammen mit den Älteren auf Aktionen zu gehen (wie z.B. die Kundgebung der „AG Kiel“ am 8.5.10 am Kieler Hauptbahnhof) oder sich gelegentlich Auseinandersetzungen mit der Polizei in Friedrichsort zu liefern. Ein (mittlerweile gelöschtes) YouTube-Video, in dem schwarz gekleidete und teils vermummte Kieler Neonazis mit Fackeln und Transparenten martialisch posieren, wurde von Pascal N., einem jungen Nazi aus Friedrichsort ins Internet gestellt.
Einige andere dieser angehenden Neonazis wohnen in Holtenau, auch hier sind seit mehreren Monaten verstärkt faschistische Sprühereien und Aufkleber zu sehen.
Begünstigt wurde diese Entwicklung durch den scheinbar gezielten Zuzug von aktiven Nazis in diese Stadtteile, wie z.B. Patrick R. (Friedrichsort). Es zeigt sich, dass die aktive Nachwuchsrekrutierung der Neonazis über den subkulturellen und actiongeladenen Habitus der „autonomen Nationalisten“ zumindest teilweise, wenn auch begrenzt, Früchte trägt. Die jungen Nazis aus dem Kieler Norden haben mittlerweile enge Verbindungen zur restlichen Kieler Szene und tauchen immer wieder zusammen mit anderen bekannten Nazis auf, verteilen Flugblätter in der Innenstadt und fahren auf überregionale Nazidemonstrationen (z.B. 5.6.10 Hildesheim, 17.7.10 Hamburg). Sie werden so durch Aktionen und die Konfrontation mit dem politischen Gegner an die Szene gebunden.
Das Bestreben über den Weg einer vermeintlichen Subkultur neue Anhänger_innen zu gewinnen, kann auch an einem weiteren Projekt aus dem Kreis der Nachwuchsnazis beobachtet werden. Mitte Juni 2010 verkündete die „AG Kiel“ auf ihrem Internetblog die Produktion eines Albums namens „Hip-Hop für Deutschland“. Der „Frontmann“ „S.I.N“ hat dafür auf dem Blog als Kostprobe schon einmal einen Text mit dem Titel „Anti-Antifa“ veröffentlicht. Der Text trieft vor Gewaltfantasien und Drohungen und endet mit den Zeilen: „das letzte was ihr hört Frei Sozial National / AntiAntifa zum sterben ein guter Tag“ (sic!). Hinter dem Pseudonym „S.I.N“ steckt Lennard S. aus Friedrichsort, der sich offenbar erst seit kurzem in Nazi-Rap versucht, vorher allerdings schon unter dem Namen „Seven SinZ“ unpolitische Hip-Hop-Stücke im Internet veröffentlichte. Auch er nahm an der Kundgebung der „AG Kiel“ am 8. Mai in der Innenstadt teil.
Die Entwicklung in Friedrichsort und Holtenau wird von der Polizei zwar beobachtet, doch wie zu erwarten beschränkt sich ihr Engagement auch hier lediglich auf das Bemühen um Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung. So werden die Nachwuchsnazis zwar ab und zu mit der Polizei konfrontiert, doch dies geschieht nur, wenn der rechte Mob mal wieder zu laut gefeiert hat. Und dabei kam es laut Anwohner_innen auch schon zu handfesten Auseinandersetzungen zwischen den jungen Nazis und der Polizei.
Es zeigt sich einmal mehr, dass Anti-Nazi-Arbeit sich nicht auf die Verfolgung einzelner Akteure aus der Nazi-Szene beschränken sollte, sondern dass Antifaschismus vor Ort viele Ebenen umfassen muss. Dazu gehört die Aufklärung über rechte Personen und Aktivitäten, das Entfernen von faschistischer Propaganda aus dem Straßenbild, aus Schule und Jugendtreff sowie auch die direkte Gegenwehr für den Fall, dass Neonazis offen auf der Straße auftreten. Einen Anfang machte Friedrichsorter „Runde Tisch gegen rechte Ecken“ Anfang Juli mit einer Straßenputzaktion, bei der mehrere hundert rechte Aufkleber in Friedrichsort entfernt wurden.
Am 22. Januar 2011 planen antifaschistische Gruppen aus Kiel ein Umsonst-Konzert im Jugendzentrum Friedrichsort/Pries mit dem Ziel, den Nazis in Friedrichsort eine lebendige und offene antifaschistische Gegenkultur in Form von Hip-Hop- und Rock-Bands, Informationen und Aufklärung entgegen zu setzen!
Nazi-Parolen an Kirche, Stadion und Polizeistation im Kieler Norden
Am letzten Wochenende wurden in den Kieler Stadtteilen Wik und Holtenau abermals mehrere Orte mit neonazistischen Parolen und Aufklebern verdreckt.
Laut einem Artikel der Kieler Nachrichten vom Montag wurden an einer Polizeistation und an einem Wohnhaus in Holtenau massenhaft faschistische Aufkleber und Parolen verklebt bzw. versprüht. Am Dienstag erschien ein weiterer Artikel, in dem von weiteren faschistischen Schmierereien an einer Grundschule, einer Sporthalle, der Hebbelschule und einem weiteren Wohnhaus berichtet wird.
In der Aufzählung der KN fehlen allerdings noch zwei weitere Orte. An dem gleichen Wochenende wurden auch mehrere Nazi-Graffitis an der Osterkirche sowie am Holstein-Stadion im Stadtteil Wik entdeckt. An der Osterkirche (Fotos) wurden u.a. ein Hakenkreuz, Sprüche wie „Deutschland den Deutschen“ und „Rote aufhängen“ und die Internet Adresse des internationalen Nazi-Musiknetzwerkes „Blood and Honour“, versehen mit dem Zusatz „Support C18“ (Combat 18), angebracht.
In den letzten Monaten tauchten vergleichbare Schmierereien immer wieder im Stadtbild auf, besonders häufig allerdings in der Wik, wo Neonazis immer wieder durch das Verkleben von Aufklebern, aber auch durch gezielte Übergriffe auf vermeintlich linke und alternative Menschen auf sich aufmerksam machen. So wurde z.B. in der Nacht zum 7. April ein junger Mann in seiner Wohnung in der Wik von drei Neonazis überfallen, welche sich Zugang zur Wohnung verschafften und diese verwüsteten.
Weitere Infos:
Antifa-Kundgebung in der Wik am 7. Mai 2009
Erneute Naziangriffe auf alternative Projekte in Kiel