04.10.15
15:00
Revolution Welcome!
Festung Europa zu Fall bringen: Globale Bewegungsfreiheit für alle!
Für ein Ende des Elends dieser Welt: Grenzenlose Solidarität gegen Rassismus, Krieg und Kapitalismus!
Risse im europäischen Mauerwerk
Europa im Spätsommer 2015: Das, was sich bei genauerem Hinsehen seit Jahren abzeichnete, auf das sich jedoch kaum jemand vorbereitet zu haben scheint, kann auf einmal nicht mehr mit der Fernbedienung weggezappt werden, sondern ist Realität auf den Straßen, Bahnsteigen und an den Fährterminals in unserer nächsten Nachbarschaft geworden: Zigtausende Menschen, auf der Flucht vor Krieg, Armut, Hunger, Verfolgung und Unterdrückung in ihren Heimatländern, stehen auf der Suche nach Perspektive nicht mehr nur an der syrischen Grenze, auf Lesbos, Lampedusa oder in Gibraltar, sondern auch vor unseren Haustüren. Menschen, ihren verbliebenen Besitz auf den Rücken geschnallt, die sich unter Aufgabe ihrer gesamten materiellen Existenz und dem Einsatz enormer Anstrengungen in unsere Wohlstandsmetropolen durchgekämpft haben. Menschen, die nicht selten erschöpft und gezeichnet von Erlebnissen der Angst, der Gewalt und des Todes sind, mit denen der_die gemeine eingeborene Mitteleuropäer_in wahrscheinlich sein_ihr Leben lang nicht konfrontiert sein wird.
Der mörderische Aufwand, mit dem sich die EU-Staaten von den Verdammten dieser Erde aus Syrien, Afghanistan, dem Irak, dem Kosovo und vielen anderen Schauplätzen des Elends der Welt mit aller Gewalt abzuschotten versuchten und der Hunderttausenden das Leben kostet: Grenzzäune, militärische Bekämpfung von Boatpeople im Mittelmeer, Einpferchung in Lagern, Registrierung und Abschiebung, konnte die Ankunft derjenigen, die in Europa hoffen ihren Überlebenskampf gewinnen zu können, nur vertagen. Die Hamburger Lampedusa-Gruppe, die seit nunmehr zweieinhalb Jahren einen erbitterten Kampf um Anerkennung in Deutschland führt, war eine Vorhut dessen, was gerade massenhaft geschieht: Das unkontrollierte Überrennen der Grenzen um und in Europa und die Durchsetzung der freien Fahrt von Süd nach Nord. Das System Dublin 3, mit dem Kerneuropa bis zuletzt jede Verantwortung in die süd- und osteuropäische Peripherie auslagerte und die dortige Ballung von Flüchtenden erst verursachte, die nun die Grenzen gesprengt hat und schlagartig auch gen Norden drängt, hat mittlerweile de Facto kapituliert. Zumindest für einige Wochen.
Willkommen in Deutschland
Seitdem sich dies seit Anfang des Jahres auch in Deutschland zunehmend bemerkbar machte und sich die Kapazitäten der Aufnahmeeinrichtungen zusehends erschöpften, weil jahrelang lieber in die militärische Überwachung der Außengrenzen, statt in Wohnraum investiert wurde, wurden auch hier kurzerhand öffentliche und leerstehende Gebäude zu Notunterkünften für Geflüchtete umfunktioniert und Zeltstädte errichtet. Dadurch und noch verstärkend durch mangelnde Verpflegung und hygienische Ausstattung wurde von den Behörden mancherorts ein Ausnahmezustand inszeniert, der zum gefundenen Fressen für deutsche Rassist_innen aller Art wurde, die sich nun kurzerhand vor den zum Teil improvisierten Behausungen formierten.
Geübt hatten die selbsternannten Verteidiger_innen des Abendlandes, zunächst noch mit dem Fokus Islamhass, in den Monaten zuvor bereits bei den großen und kleinen „PEGIDA“- und verwandten Kürzeldemonstrationen, die ihren Höhepunkt um die Jahreswende hatten. Hier und bald verstärkt auch wieder vor den Flüchtlingsheimen standen sie in einer schwarz-rot-braunen Front vereint: Nadelstreifen neben Jogginghose, organisiert agierender Neonazi neben „Not in my backyard“-Wohlstandssicherer, besorgte xenophobe Mutter neben frustrierten Nach-Unten-Treter_innen, komplettiert durch die irrationalsten fleischgewordenenen Auswüchse höchster sozialer Entfremdung. Dort wo man es sich leisten kann mit Anwälten und einstweiligen Verfügungen, in Heidenau als Lynchmob oder in Escheburg mit dem Brandsatz, ging und geht man gegen (geplante) Wohnstätten von geflüchteten Menschen vor. Seit Anfang des Jahres kommt es täglich durchschnittlich zu mindestens einem Anschlag solcher Art. Nicht wenige von uns fühlen sich an die frühen 1990er erinnert, als in Rostock-Lichtenhagen und anderswo die Häuser von Asylsuchenden und Migrant_innen in Flammen standen.
Worin sich die aktuelle Situation jedoch tatsächlich von Beginn an unterschied, war und ist eine bundesweite Welle der konsequenten Bereitschaft vieler, aktive Alltagssolidarität mit den vielen tausenden Menschen auf der Flucht zu üben. Diese geht weit über das bekannte Spektrum antirassistischer Initiativen einerseits und der Wohlfahrtsverbände andererseits hinaus. Teils überquellende Spendenlager, Willkommensfeste in jeder Kleinstadt, selbstorganisierte Sprachkurse, Unterstützungsnetzwerke bemerkenswerter Reichweite sowie Strukturen, die praktische Fluchthilfe organisieren, sind Zeugen dieser starken, dem rassistischen Mob entgegengesetzten Tendenz, die sich aus ganz verschiedenen Motivationslagen zusammensetzt: Anti-Rassismus, Humanismus, Selbstverständlichkeit, Empathie und ganz sicher auch Hype – zusammengenommen hat sie viele überwältigt und konnte die Unfähigkeit oder den Unwillen staatlicher Strukturen, Refugees mit dem Nötigsten zu versorgen, vielerorts abfedern.
Dass das der anti-rassistischen Bewegung entstammende „Refugees Welcome“ spätestens vor einigen Wochen auf einmal Mainstream-fähig wurde, sprach sich schnell auch bis in die Kreise der etablierten Politik herum; bis zu jenen, die kurz zuvor noch Verständnis für die Ängste der am Stammtisch oder vor den Flüchtlingsheimen randalierenden besorgten Rassist_innen bekundet hatten und es morgen wieder tun werden und die seit Jahren die europäischen Abschottungspolitik – den Krieg gegen Flüchtende an den EU-Außengrenzen und die mörderische Abschiebepolitik – propagierten und skrupellos durchsetzen. Unterstützt durch selbst die reaktionärsten Medienorgane, die ansonsten mit Warnungen vor „Ausländerkriminalität“ und „Flüchtlingshorden“ Schlagzeilen und Auflage machen, fraß man in den Regierungsvierteln (jenseits von München) Kreide, stimmte in den Willkommenschor mit ein und landete damit wahrlich einen Clou: Beim „Asylkompromiss“ von 1993 hatte es noch die wortgenaue Übernahme der rassistischen „Das Boot ist voll“-Rhetorik der Brandstifter von Lichtenhagen gebraucht, nicht allerdings ohne den faden Beigeschmack, dass dadurch das Image des noch jungen Neu-Großdeutschlands im Ausland durchaus in Mitleidenschaft gezogen wurde. 22 Jahre später setzt sich die fortgesetzte Verstümmelung des Asylrechts und der Ausbau der wackelnden Festung Europa dagegen ausgerechnet im Schatten der vor den Kameras prominent zur Schau gestellten, de facto jedoch fast überall hauptsächlich von Freiwilligen in ihrer Freizeit organisierten, „Willkommenskultur“ fort.
Die breit getragene Refugee-Solidarität wird so aufs Schäbigste für ein noch schäbigeres nationales Projekt vereinnahmt: Nicht, wie noch Anfang der 1990er, weil der zündelnde rassistische Deutsche sich eingeengt fühlt und nicht mehr unter Kontrolle zu halten ist, sei diesmal das Boot voll, sondern obwohl das deutsche Volk sich geschlossen so beispiellos offenherzig gezeigt habe, man zusammengerückt und seiner Verantwortung der Welt gegenüber nachgekommen sei, müsse der unkontrollierte Flüchtlingsstrom nun wieder in Bahnen geleitet werden, damit der überforderte Willkommensweltmeister nicht unter der schweren Last zusammenbricht.
Das Ergebnis bleibt dasselbe, auch wenn die Bestie diesmal lächelt: In dem nun in die Wege geleiteten Einwanderungsgesetz soll Geflüchteten der Aufenthalt in Deutschland auch weiterhin so unattraktiv wie möglich gemacht werden. Die Mittel sind altbekannt: Wiedereinführung der Residenzpflicht, Sachleistungen statt Bargeld, schnellere Abschiebungen und die Erklärung nahezu der ganzen Welt zu sogenannten sicheren Drittstaaten. Parallel wird das Schengen-Abkommen von heute auf morgen außer Kraft gesetzt und die Abwehranlagen der europäischen Außengrenzen nun auch im Binnenland wieder installiert. Unterscheiden tut sich in Deutschland weitestgehend lediglich die offizielle Begleitideologie, mit dem entscheidenden Vorteil, dass sich das schwarz-rot-gelbe Merkel-Regime unter diesen Vorzeichen auch weiterhin – moralisch scheinbar einwandfrei – als autoritäre Führungsmacht in Europa und der Welt aufspielen kann. Stattdessen deutet der deutsche Zeigefinger gewohnt selbstgerecht gen Ungarn, wo die faschistoide Orban-Regierung den am Ende gleichen Kampf gegen die Flüchtenden führt, nur dass dieser hier ganz ohne Heuchelei, sondern unverhohlen offen unter rassistischen Parolen stattfindet.
„Wir sind hier, weil Ihr unsere Länder zerstört.“
Ein Großteil der flüchtenden Menschen, die sich derzeit ihren Weg in die Staaten der EU bahnen, kommt aus Syrien, dem Irak, Afghanistan oder dem Kosovo. Diese Länder haben gemeinsam, dass sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu Schauplätzen von Kriegen geworden sind, die von EU-Staaten und ihren Verbündeten entfacht, oder aber billigend in Kauf genommen bzw. unterstützt worden sind oder immer noch werden.
Diese Kriege werden geführt, um die (durchaus heterogenen) geopolitischen Interessen westlicher und anderer imperialistischer Staaten in wirtschaftlich und politisch wichtigen Regionen durchzusetzen. Mit unterschiedlichen Strategien verfolgen insbesondere die NATO-Staaten seit Jahren das Ziel der Neuordnung des Mittleren Ostens: Was mit dem Angriffskrieg auf Afghanistan 2001 begann und 2003 im Irak fortgesetzt wurde, zieht seine blutige Spur bis in die syrische Gegenwart, wo seit vier Jahren ein entgrenzter Bürgerkrieg tobt, der Millionen Syrer_innen zur Flucht gezwungen hat. Unbequem gewordene Herrscher, die gestern noch als Verbündete aufgerüstet wurden, werden heute politisch, ökonomisch oder mit unmittelbaren kriegerischen Mitteln abgesetzt oder geschwächt, neue Verbündete als temporärer willige Helfer aufgebaut und eingesetzt, bis der Wind sich erneut dreht. Was häufig als Chaos und Unvermögen erscheint und es manchmal auch ist, ist opportunistisches Kalkül der mächtigsten Staaten der Welt mit der Zielsetzung, ganze Regionen an ihrer eigenständigen Entwicklung zu hindern und so die Waren-, Geld- und Rohstofftransfers mit den kapitalistischen Zentren in der Tradition kolonialistischer Herrschaft aufrecht zu erhalten.
Menschenrechtsverletzungen spielen in dieser Gemengelage, entgegen der Kriegspropaganda, nur dann eine Rolle, wenn sie dem jeweils aktuellen Feindbild angelastet und zur ideologischen Konstruktion von Kriegsgründen missbraucht werden können. Gehen sie jedoch vom eigenen Verbündeten aus oder werden sie gar selbst verübt, herrscht das Schweigen im Walde. Das Ergebnis sind zerstörte Sozialstrukturen, schwer bewaffnete und sich bekriegende Clans, die Konjunktur reaktionärer Ideologien, kurz: völlig brutalisierte Gesellschaftsverhältnisse, die den Menschen, die ihnen ausgesetzt sind, zur Flucht keine Alternative mehr lassen, wollen sie ihr Überleben sichern. Der „IS“, der derzeit wohl barbarischste Auswuchs der elenden Zustände im Mittleren Osten, entstand nachweislich auf den Trümmern des Irak, wurde als Opposition gegen das syrische Assad-Regime zumindest anfänglich geduldet und vom NATO-Staat Türkei sowie dem westlichen Verbündeten Saudi-Arabien nachweislich unterstützt.
Deutschland beteiligte sich 1999 am Angriffskrieg gegen Jugoslawien, um den innereuropäischen Einfluss Russlands in Europa zurückzudrängen. Zwei Jahre später stand Deutschland den USA bei ihrem „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan bedingungslos zur Seite, der Auftakt jener gewaltsamen Umstrukturierung des Mittleren Osten, die die heutigen hoffnungslosen Trümmerfelder herbei gebombt hat. Deutschland unterstützte informell den britisch-amerikanischen Irak-Krieg genauso wie es derzeit Einfluss im Syrien-Konflikt nimmt. In alle Welt liefert Deutschland als drittgrößter Waffenexporteur die Tötungsmaschinerie für das Gemetzel und sichert dem Standort seinen Reichtum. Kiel ist ein Zentrum dieses blutigen Geschäfts.
Es ist also keineswegs eine selbstlose Geste von gastfreundlichen Europäer_innen, wenn hier Geflüchteten Schutz vor Krieg und Verfolgung gewährt wird. Es ist das Recht der zur Flucht Verdammten, jederzeit hierher zu kommen, um sich wenigstens ein kleines Stückchen des Lebens und der Sicherheit zurückzuholen, die ihnen geraubt wurden. Es ist das Mindestmaß an Reparation für die maßgeblich auch von Europa aus betriebene Ausplünderung und Zerstörung ihrer Herkunftsländer zur Aufrechterhaltung des globalen Kapitalismus und zur Sicherung des Reichtums seiner Machtzentren.
Menschlichkeit zu Widerstand!
Es steht völlig außer Frage, dass wir, die vielen Menschen, die derzeit Alltagssolidarität organisieren, eine in Anbetracht der Notlage, mit der viele Geflüchtete konfrontiert sind, kaum zu hoch zu bewertende Arbeit leisten. Nichtsdestotrotz dürfen wir dabei nicht vergessen, dass wir gegen Windmühlen kämpfen, wenn die humanitäre Hilfe nicht mit politischem Widerstand verknüpft ist, der zum Angriff auf all das übergeht, was das Elend dieser Welt tagtäglich verursacht.
Wer Geflüchtete willkommen heißen will, muss die Grenzzäune einreißen, die uns daran hindern und das FRONTEX-Menschenjäger_innen-System im Mittelmeer versenken. Wer es unerträglich findet, dass Menschen tagelang an Bahnhöfen und Fährterminals festsitzen, muss durchsetzen, dass jede_r unabhängig irgendwelcher Ausweispapiere, sich zu jederzeit und auf jedem Weg dorthin begeben kann, wo es ihm_ihr beliebt. Wer Solidarität ernst meint, muss sich dem Schicksal stellen, was der Flucht von Millionen Menschen nach Europa zugrunde liegt und gegen die deutsche und europäische Kriegspolitik aufbegehren; muss die Waffenproduktion in unseren Vorgärten sabotieren. Wer sich einen respektvollen Umgang mit Geflüchteten ersehnt, muss sich Rassist_innen aller Couleur entgegenstellen, wo immer sie ihr dreckiges Maul aufreißen oder zum Brandsatz greifen; muss das trennende „die“ und „wir“ im eigenen Denken in ein Verhältnis auf Augenhöhe auflösen. Wer geflüchteten Familien einen existenziellen Neuanfang ermöglichen will, kann dies nicht unter schwarz-rot-gelben Fahnen tun, sondern muss sich gegen die restriktive Asylgesetzgebung und mörderische Abschiebepraxis des deutschen Staates stellen. Und wer will, dass das globale Elend aufhört und einem solidarischen Miteinander in Gleichberechtigung und Freiheit, einem angstfreien und würdevollen Leben für alle Menschen weltweit weicht, muss den Bruch mit der kapitalistischen Gesellschaftsordnung erkämpfen, deren Zwänge uns permanent gegeneinander ausspielen, rassistische und patriarchale Herrschaftsverhältnisse nährt und die die menschlichen Lebensgrundlagen heute dort, morgen hier der Zerstörung preisgeben wird. Es liegt an uns, eine radikale Veränderung der brutalen Verhältnisse auf den Weg zu bringen, gemeinsam – egal auf welchem Flecken dieser Erde unsere Reise irgendwann mal begann.
Gegen die herrschende Ordnung der Welt – für einen revolutionären Anti-Rassismus!
Sonntag, 4. Oktober 2015:
Antikapitalistischer [&] antirassistischer Block bei #kielweltoffen 3.0
15 Uhr / Ratsdienergarten (Revolutionsdenkmal) / Kiel
Autonome Antifa-Koordination Kiel | netzwerk antirassistische aktion [nara] kiel
Infos [&] Kontakt: www.antifa-kiel.org | antiravernetzungsh.noblogs.org