Nach etwa eineinhalb Jahren wurden im Oktober 2016 die letzten Verfahren gegen Antifaschist_innen im Zusammenhang mit den Protesten gegen den Landesparteitag der AfD 2015 in Kiel eingestellt. Vorausgegangen ist diesem Erfolg eine ebenso lange und kontinuierliche gemeinsame Antirepressionsarbeit von Betroffenen, Anwält_innen, Antifa und Rote Hilfe e.V..
Anfang des Jahres 2015 wurde bekannt, dass der schleswig-holsteinische Landesverband der rechtspopulistischen und chauvinistischen Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) einen Landesparteitag in der „Business-Lounge“ der Sparkassenarena mitten in der Kieler Innenstadt abhalten will. Gegen diesen Parteitag mobilisierte ein Bündnis linker und antifaschistischer Gruppen aus Kiel, Schleswig-Holstein und Hamburg unter dem Motto „Das ist keine Alternative: Gegen Nationalismus, Rassismus, Sexismus und Chauvinismus! Grenzenlose Solidarität statt autoritäre Krisenlösungen!“1 zu einer Kundgebung. Bereits im Vorfeld wurde durch die lokale Presse bekannt, dass die AfD eine Strafanzeige wegen des antifaschistischen Aufrufs stellte.2
Am Morgen jenes 21. März 2015 folgten etwa 200 Antifaschist_innen dem Aufruf zur Kundgebung gegen die AfD in Sichtweite des Tagungsortes. Von hier aus bewegten sich wenig später über 100 Menschen zum Delegierten-Eingang, um die teilnehmenden AfD-Mitglieder mit ihrer antifaschistischen Kritik direkt zu konfrontieren. Dieser Versuch, den Protest so nah wie möglich an seine Adressat_innen heran zu tragen, wurde erst kurz vor dem Eingangsbereich durch massive Gewalt der herbeieilenden Polizei in Form von Schlagstockgebrauch, Faustschlägen und Fußtritten aufgehalten. Mehrere Demonstrant_innen wurden dabei verletzt. Die an dieser Aktion beteiligten Antifaschist_innen wurden anschließend auf dem Vorplatz der Arena eingekesselt und in einem langwierigen Prozedere kontrolliert, durchsucht und abfotografiert. Hierbei wurden die Personalien von 129 Aktivist_innen aus unterschiedlichen politischen Spektren festgestellt, was im Nachklang des Tages zu einer Reihe von Anzeigen und Verfahren gegen die Betroffenen führte. Unter den Eingekesselten befand sich ebenfalls ein Landtagsabgeordneter der Grünen, welcher von der Polizei in den Kessel gelassen wurde um mit den Antifaschist_innen zu sprechen, jedoch danach nicht mehr heraus gelassen wurde und ebenfalls den polizeilichen Maßnahmen ausgesetzt war.3
Gemeinsame spektrenübergreifende Antirepressionsarbeit
Noch am Tag selber kündigte die Polizei gegenüber den Demonstrant_innen an, dass eine Strafanzeige gestellt wurde und gegen sie wegen „Hausfriedensbruch“ ermittelt werden würde. Um einen möglichst koordinierten Umgang mit der zu erwartenden Repression zu organisieren, luden die Autonome Antifa-Koordination Kiel und die Rote Hilfe Ortsgruppe Kiel für Mitte April 2015 zu einem großen Antirepressionstreffen im Kieler Gewerkschaftshaus ein, um mit möglichst vielen Betroffenen das weitere Vorgehen zu besprechen. An diesem Treffen nahmen über 50 Menschen sowie ein solidarischer Anwalt teil. Dort konnte vielen – gerade auch jüngeren – Genoss_innen die Angst vor möglichen Nachteilen durch die Strafanzeigen genommen werden, in dem vereinbart wurde, dass mit Polizei und Staatsanwaltschaft nicht kooperiert und auf mögliche Vorladungen nicht reagiert wird und dass es eine kollektive Aufarbeitung der Geschehnisse geben solle. Der Anwalt beantragte stellvertretend für einen Betroffenen Akteneinsicht. Die Rote Hilfe OG Kiel stellte sich und ihre Arbeit vor und wies auf die Möglichkeit hin, nach Ende der Verfahren Unterstützungsanträge bei der Roten Hilfe zu stellen. Auch Vertreter_innen der an der Aktion beteiligten Gruppen bekräftigten, dass die Betroffenen sowohl politisch als auch finanziell nicht alleine gelassen werden.
Im Mai flatterten schließlich die bereits erwarteten Vorladungen und Anhörungsbögen vom Kommissariat 5 (Staatsschutz) der Kieler Polizei ein. In den Briefen wurde den Betroffenen mitgeteilt, sie sollen als „Beschuldigte/r“ wegen des Vorwurfs eines „Hausfriedensbruchs“ (§ 123 StGB) am 21. März 2015 auf dem Gelände der Sparkassenarena angehört werden. Der ebenfalls eingekesselte Gründe Landtagsabgeordnete war aufgrund seiner Immunität nicht mehr davon betroffen. Abermals luden die Rote Hilfe und die Antifa zu einem Antirepressionstreffen ein. Im Juni 2015 sind dann weitere Vorladungen der Polizei bei verschiedenen Betroffenen eingetroffen, denen jetzt auch andere Vorwürfe als nur Hausfriedensbruch (u.a. „Vermummung“4, „Beleidigung“, „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ und „versuchte Körperverletzung“) gemacht wurden.
Einstellung #1
Knapp fünf Monate nach der Aktion wurde im Laufe des August dann erfreulicherweise bekannt, dass die Staatsanwaltschaft die Verfahren wegen „Hausfriedensbruch“ nach § 170 Abs. 2 StPO, also mangels Tatverdachts, eingestellt hat, da der Platz vor der Arena, obwohl er zum dortigen Privatgrundstück gehört, üblicherweise für Fußgänger nutzbar ist. Die Frage, ob das nicht-abgesperrte Areal vor der Sparkassenarena ein so genanntes „befriedetes Gebiet“ oder doch öffentlicher Raum ist, hätte als erstes in einer möglichen Verhandlung vom Gericht geklärt werden müssen. In den folgenden Monaten und Jahren hätte die Kieler Justiz eine Menge zu tun gehabt, da viele der betroffenen Antifaschist_innen bereit waren, ihre Verfahren vor Gericht auszutragen. Die Rote Hilfe Kiel wertete die Einstellung der Verfahren als Erfolg der organisierten und gemeinsamen Antirepressionsarbeit aller Betroffenen, da es der Polizei nicht gelungen sei, ihre Strategie der Einschüchterung zum Erfolg zu führen.5 Ende September wurde ebenfalls bereits ein in dem Zusammenhang stehendes Verfahren wegen „Widerstand“ gegen einen Genossen eingestellt.
Die spannende – bis dahin unbeantwortete – Frage blieb, wer am 21. März die Anzeige wegen Hausfriedensbruch stellte: War es die AfD, oder doch die das Hausrecht besitzende Betreiber_innen-Gesellschaft der Sparkassenarena?
Da geht doch noch was – Anklage reloaded
Die Freude über die eingestellten Verfahren wegen Hausfriedensbruch währte jedoch nicht allzu lange: Ende August hatten 11 Menschen, die vorher wegen Hausfriedensbruch angeklagt waren, erneut Vorladungen bekommen – dieses mal mit dem Vorwurf des „Landfriedensbruchs“ (§ 125 StGB). Die Kieler Polizei und Staatsanwaltschaft schienen sich mit der Einstellung der Verfahren nicht zufriedengeben zu wollen. Des weiteren standen immer noch weitere Vorwürfe gegen einzelne Aktivist_innen im Raum. Die Rote Hilfe, die Antifa-Koordination und die SDAJ (Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend) luden abermals zum nunmehr dritten großen Treffen ein, an dem wieder viele der (ehemals) Betroffenen und ein Anwalt teilnahmen.
Nach Abschluss der „Ermittlungen“ übergab die Polizei die Fälle im Dezember 2015 an die Kieler Staatsanwaltschaft. Diese wertete die Vorwürfe gegen die 11 Antifaschist_innen zwar nicht als Landfriedensbruch, jedoch als „Widerstand“, da sich die Betroffenen nicht einfach so von den eingesetzten Eutiner Polizist_innen haben schubsen und schlagen lassen, wie es offensichtlich von ihnen erwartet wurde. Als „Beweis“ diente das von der Polizei am 21. März angefertigte Videomaterial.
Mittlerweile war auch bekannt, dass die Anzeige wegen Hausfriedensbruch am 21.3. von der Betreiber_innen-Gesellschaft der Sparkassenarena gestellt wurde. Dies wurde auch vorher so von der Geschäftsführung mit der AfD für den Fall einer versuchten Blockade des Eingangs durch Antifaschist_innen abgesprochen. Die „Konzert- und Veranstaltungsgesellschaft mbH [&] Co. KG Kiel“ ist ein Zusammenschluss aus Provinzial Versicherungen, Kieler Nachrichten und Citti Großmarkt, den Eigentümern der Halle. Diese hatte mir ihrer bereitwilligen Kooperation mit der rassistischen Partei AfD somit für eine Repressionswelle gegen Kieler Antifaschist_innen gesorgt, anstatt sich, z.B. mit einer Absage der Veranstaltung, gegen die allgegenwärtige rassistische Stimmungsmache zu positionieren. Neben den laufenden Verfahren gab es auch noch mindestens eine nachträgliche Vorladung zur Polizei zu einer erkennungsdienstlichen Behandlung. Einige dieser Verfahren wurden zu diesem Zeitpunkt, im Dezember 2015, zwar bereits eingestellt – teilweise gegen Auflagen – die anderen Verfahren liefen jedoch noch.
Einstellung #2 und #3
Am 7.3.2016 sollte dann ein erster Gerichtsprozess im Zusammenhang mit den Geschehnissen am 21. März 2015 stattfinden. Dem Angeklagten wurde vorgeworfen „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ (§113 Abs. 1 StGB) begangen zu haben, er hatte einen Strafbefehl über 900€ bekommen und dagegen Widerspruch eingelegt. Es hatten sich ca. 30 Unterstützer_innen des Betroffenen im Kieler Amtsgericht eingefunden, kurz darauf konnte der Genosse erfreulicherweise noch im Flur vor dem Saal verkünden, dass der Prozess nach einer Unterredung zwischen Anwalt und Gericht ohne Auflagen eingestellt wurde. Der Betroffene veröffentlichte im Nachgang seine Prozesserklärung, die er dort gehalten hätte, im Internet.6
Schlussendlich wurden im Oktober 2016 endlich auch die 11 von „Landfriedensbruch“ zu „Widerstand“ umgewandelten Verfahren durch die Staatsanwaltschaft wegen „geringer Schuld“ eingestellt, jeweils mit der Begründung, dass die Polizei zwar rechtmäßig gehandelt hätte, als sie die Demonstrant_innen gewaltsam abdrängte und einkesselte, aber die Widerstandshandlungen der Angeklagten am untersten Rand des strafbaren waren. Weitere einzelne Verfahren wegen „Widerstand“ wurde gegen Auflagen eingestellt.
Datenspeicherung bei LKA und BKA
Die von der Polizei am 21.3. aufgenommenen personenbezogenen Daten der 128 Betroffenen wurden sowohl beim Landeskriminalamt (LKA) als auch beim Bundeskriminalamt (BKA) gespeichert, allerdings (zumindest in einem durch einen Anwalt angefragten Fall) nicht in den so genannten „Informationssystemen“ der Behörden (den Datenbanken für z.B. „politisch motivierte Straftäter_innen“) sondern „nur“ zur Vorgangsverwaltung bzw. Dokumentation. In Schleswig-Holstein ist dies das Vorgangsbearbeitungssystem (VBS) „@rtus“. Laut Auskunft des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein (ULD) kann bei einem polizeilichen Einsatz, z.B. einer Verkehrskontrolle, nicht auf diese Daten zugegriffen werden. Ob dies für alle Betroffenen (insbesondere bei Menschen, die bereits andere Einträge haben) gilt, ist nicht bekannt. Über einen Rechtsanwalt konnte in einem Fall die Löschung der Daten beim BKA (in der bundesweiten Datenbank INPOL) erreicht werden.
Exkurs: Staatsanwalt Nowrousian
Dass die Kieler Repressionsorgane sich im Sommer 2015 nicht mit der Einstellung der Hausfriedensbruch-Verfahren zufrieden gaben und stattdessen dann gegen 11 Genoss_innen wegen Landfriedensbruch ermittelten, mag mehrere Gründe haben. Einer könnte sein, dass es den Behörden in Kiel auffällig selten gelingt, linke Aktivist_innen zu verurteilen, obwohl sie es auch hier häufig versuchen. Ein weiterer könnte in der Person des damals zuständigen Staatsanwaltes Nowrousian liegen. Nowrousian war bis Juli 2016 bei der Staatsanwaltschaft in Kiel und dort für die meisten „politischen“ Fälle – wie den vorliegenden – zuständig. In einem Artikel für „Die Kriminalpolizei. Zeitschrift der Gewerkschaft der Polizei“ legte Nowrousian im Juni 2016 eindeutig seine politischen Ansichten dar. Er ist der Meinung, Deutschland erlebe „in diesen Tagen Kriminalität, wie es sie in dieser Form noch nie gesehen“7 habe. Diese komme seiner Meinung nach vor allem von Täter_innen aus „muslimischen Parallelgesellschaften“, z.B. durch „Scharen junger Männer“, die Taten begingen, die „bisher nur aus der arabischen Welt [..], vor allem aus Ägypten“ bekannt seien. Er sieht Straßenzüge beherrscht von „libanesischen Familienclans“ und spricht von „Angstzonen in deutschen Großstädten“. Doch auch die „Linksextremisten“ stilisiert er zur großen Gefahr für die deutsche Wertegemeinschaft, die „sogenannte Antifa“, welche in „hohem Maße kampagnenfähig“ sei, habe einen „Großangriff auf die Demokratie“ begonnen. Die Rechtsextremisten natürlich auch, wie er kurz im Vorwort des zweiseitigen Artikels betont. Seine Lösungsvorschläge: Mehr Personal bei den Sicherheitsbehörden, schärfere Gesetze, „offensive Videoüberwachung des öffentlichen Raums“ und bei Täter_innen mit Migrationshintergund die Möglichkeit einer leichteren Ausweisung, welche „nicht mehr an der Strafe, sondern am Schuldspruch festzumachen“ sei. Kiel hatte somit einen eindeutig auf (mindestens) AfD-Linie denkenden Staatsanwalt. Heute ist Nowrousian Professor für Strafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Münster.
Das Ende, nach 1 ½ Jahren…
Mit der Einstellung der Verfahren im Oktober 2016 neigt sich die Solidaritätsarbeit nach etwa 1 1/2 Jahren endlich dem Ende zu. Es war von an Anfang an klar, dass die Polizei mit der Einkesselung, ihrer Gewalt, Drohungen und Beleidigungen während des Kessels sowie der Ankündigung und dem Stellen von Anzeigen die 129 teils minderjährigen Antifaschist_innen einschüchtern wollte. Dies ist ihnen aufgrund der erfolgreich organisierten, spektrenübergreifenden Antirepressionsarbeit der an der Aktion beteiligten Gruppen und der Roten Hilfe Kiel nur spärlich gelungen. Es gab unseres Wissens nach keine Verurteilung und die allermeisten Ermittlungsverfahren wurden ohne Auflagen eingestellt. Einige der Betroffenen haben Unterstützungsanträge bei der Roten Hilfe gestellt, jedoch viel weniger, als zu Anfang zu befürchten war. Es hat sich gezeigt, dass eine Linke, die solidarisch zusammensteht, dieser Repression auch immer etwas entgegensetzen kann. Auch in diesem Fall zeigt sich, dass gemeinsames Vorgehen, konsequente Verweigerung der Kooperation und Aussageverweigerung bei Polizei und Staatsanwaltschaft die besten Erfolge bringt.