Erfahrungen und Einschätzungen einiger Kieler Antifaschist*Innen
Seit 2006 mobilisieren verschiedene antifaschistische Bündnisse und Initiativen gegen die Bestrebungen der Neonazis.
Seit 2006 wird der Widerstand mit Polizeirepression, teils massiven Übergriffen, konfrontiert.
Die Hintergründe
Jährlich laufen NPD und „freie Kräfte“ zu geschichtsrevisionistischer Höchstform auf und deuten die Einheiten der deutschen Wehrmacht und der Waffen-SS zu ehrenhaften Helden um, während die Streitkräfte der Anti-Hitler-Koalition, die Europa und die ganze Welt von der faschistischen Terror-Herrschaft befreiten, dagegen als Kriegsverbrecher bezeichnet werden. In der Vertauschung von Täter- und Opferrollen werden die Verbrechen Nazideutschlands, die Ermordung von 6 Millionen Jüd*Innen, Hunderttausenden Menschen mit Behinderung, Sinti, Roma, sowjetischen Kriegsgefangenen, Homosexuellen, (vor allem kommunistischen) Antifaschist*Innen und der Vernichtungskrieg gegen die Bevölkerung Polens und der Sowjetunion, relativiert und verleugnet.
Der 26. März 2011
Der Mobilisierung des Lübecker Bündnisses „Wir können sie stoppen“ folgten am Morgen des 26. März 2011 etwa 2000 Antifaschist*Innen. Gelang es ein Jahr zuvor die Aufmarschroute der Nazis zu blockieren und mussten diese folglich nach gerade einmal 170 Metern den Rückweg antreten, wurde der Aufmarsch dieses Jahr von einem enormen Polizeiaufgebot gegen den Widerstand der Nazigegner*Innen durchgesetzt. Stadt und Polizei waren an diesem Tag von Beginn an darauf aus den antifaschistischen Protest möglichst klein zu halten: Die Naziroute wurde bereits ab 04:30 Uhr von einem Großaufgebot von etwa 3000 PolizistInnen weiträumig abgeriegelt und Blockadeversuche brutal geräumt. Im Tagesverlauf kam es zu insgesamt 23 schikanösen Ingewahrsam- und Festnahmen, unter anderem von sieben Genoss*Innen aus Kiel.
Gegen Mittag wurden die Genoss*Innen unter dem Tatvorwurf des „Landfriedensbruches“ von einer Schweriner BFE-Einheit festgenommen und in die zentrale Gefangenensammelstelle in der Polizeiwache Possehlstraße gefahren. Während der gesamten Zeit des unfreiwilligen Freiheitsentzuges sahen sich die Gefangenen mit psychischer und physischer Gewalt seitens der PolizistInnen konfrontiert. Ausdruck fand diese in Form von permanenten Beleidigungen, verbalen Angriffen sowie Gewaltanwendungen, wie dem Verdrehen von Arm und Handgelenk. In der Tiefgarage des Gebäudes wurden die Gefangenen durchsucht, unter der Androhung von Gewalt wurden sie dazu genötigt sich vor jeweils etwa fünf PolizistInnen vollständig zu entkleiden. Die Maßnahme wurde auch auf Nachfrage nicht begründet, sowie der Widerspruch gegen eben diese trotz mehrfachen darauf Bestehens nicht dokumentiert. Einer Genossin wurde ihre benötigte Brille abgenommen und nachdem sie sich weigerte mit den Beamten zu kooperieren, für die restliche Zeit des Gewahrsams einbehalten. Als Gewahrsamszellen fungierten teils völlig überhitzte oder unterkühlte und extrem staubige Garagen, in welche die Antifaschist*Innen mehrere Stunden eingesperrt waren. Minimale Mengen Wasser wurden erst nach etlicher Zeit zur Verfügung gestellt, sowie Toilettengänge teils verweigert beziehungsweise mindestens stark verzögert.
Die Kontinuität…
Das Demonstrationsgeschehen, besonders die Einsätze der Polizei, anlässlich der jährlichen Aufmarschversuche der Nazis in Lübeck werden seit 2008 von unabhängigen Demonstrationsbeobachter*Innen beobachtet und ausgewertet. In diesem Zusammenhang dokumentierte die Humanistische Union Lübeck bereits in ihrem Bericht zum 28.03.2008, dass sich mehrere ingewahrsamgenommene Sitzblockierer*Innen, unter denen sich auch Minderjährige befanden, ebenfalls entkleiden mussten. Auf die fehlende Gesetzesgrundlage dieser Maßnahme wies die Organisation bereits die vorherigen Jahre hin. Eine Änderung im Umgang mit Fest- oder Ingewahrsamgenommenen seitens der Behörden kann bis heute allerdings nicht festgestellt werden. Im Gegenteil bestätigen die Erfahrungen aus diesem Jahr eine Fortsetzung dieser Prozedere, welche ausschließlich als Demoralisierungs- und Einschüchterungsversuche bewertet werden können.
…in Lübeck
Sowohl die Vorkommnisse auf der Polizeiwache, als auch die massiven Übergriffe von PolizistInnen gegen den Widerstand von Antifaschist*Innen auf der Straße, sind keine tragischen Einzelfälle. Sie sind Ausdruck einer Politik, die Repression als Mittel zur Erhaltung der Norm beziehungsweise zur Bestrafung von Menschen, die für oder gegen etwas aufbegehren, einsetzt. Sie soll die Betroffenen einschüchtern und demoralisieren. Zugleich ist sie als Warnung an alle Anderen zu verstehen und stellt den Versuch dar, kollektive Dynamiken zu zerschlagen.
Gegen die Auftritte der Nazis mobilisiert jährlich das seit Ende 2005 aus unterschiedlichsten Spektren bestehende Bündnis „Wir können sie stoppen“. Zudem wurde die „Wir können sie stoppen“ – Mobilisierung zeitweise von weiteren Initiativen wie dem „Bündnis Autonomer Antifas Nord“ oder „Mut zur Lücke“ unterstützt. Ob (Sitz-)Blockade oder Versammlung von Nazigegner*Innen auf dem Gelände der Lübecker Bodelschwingh Kirchengemeinde, ob Autonome*R und Linksradikale oder Gewerkschafter*In ist gleich. Die Erfahrungen zeigen, dass Ziele der Angriffe Alle werden, die die Verhältnisse thematisieren, welche als Symptom eben auch Nazis produzieren oder auch nur sich außerhalb des vorgegeben Rahmens antifaschistisch betätigen.
Repression
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es uns nicht um das Beklagen von Repression oder dem Rufen nach Rechtsstaatlichkeit geht. Wir begreifen repressive Praxis und Ideologie als Fundament herrschender Ordnung auf vielen verschiedenen Ebenen, sie dient der Aufrechterhaltung des kapitalistischen Normalzustandes. Sowohl aus unserer Analyse von staatlicher Ideologie (mit uns ist eine radikale Linke gemeint, welche antagonistisch zu den bestehenden Verhältnissen steht), sowie gesellschaftlichen Mechanismen des Systems, als auch aus unseren Erfahrungen, haben wir keine andere Behandlung durch die Cops erwartet. Trotzdem wollen wir nicht so tun, als ob wir die krassen Straßenkämpfer*Innen wären, die völlig unbeeindruckt aus der ganzen Geschichte raus gehen. Außerdem halten wir es für sinnvoll Vorgänge dieser Art zu dokumentieren und zu veröffentlichen, um in der Analyse den Bezug zu den realen Verhältnissen herstellen und Entwicklungstendenzen erkennen zu können.
Die Erfahrung von Repression hat immer Auswirkungen auf die oder den Betroffene*N. Sie kann das Gefühl von Angst, Ohnmacht oder Wut hervorrufen, in den jeweiligen Situationen sind die Betroffenen damit konfrontiert auf den Verlauf des Geschehens keinen oder nur begrenzten Einfluss nehmen zu können. Das Individuum soll für sein Verhalten bestraft werden. Die Strafe soll es zukünftig von diesem Verhalten abhalten. Gleichzeitig soll sie der Bewegung als Warnung dienen, sich nicht in gleicher Weise zu verhalten, also nicht für eine politische Utopie, Einstellung, in diesem Fall gegen das Aufmarschieren von Neonazis, einzutreten. Repression ist nicht nur gegen eine*N persönlich gerichtet, sondern gegen das politische Handeln, die Identität, die dahinter steht. Eines ihrer Mittel ist die Individualisierung, die in mehrere Ebenen hineinwirkt. Der erste Aspekt ist das heraus greifen und anklagen Einzelner, stellvertretend für eine Bewegung. Der zweite Punkt der Individualisierung sind die strafrechtlichen Konsequenzen, welche zu befürchten sind und eine entsprechende Auseinandersetzung (Zeit und Nerv) bedürfen. Während die dritte Ebene die emotionale Auseinandersetzung und Reaktionen der Betroffenen beschreibt. Für uns ergibt sich daraus die notwendige Konsequenz des Austausches, der Auseinandersetzung zur Stärkung eines kollektiven Bewusstseins.
„Die Stärke unserer (militanten) Aktionen steht und fällt mit der Verbindlichkeit sozialer Beziehungen und gemeinsam getroffener Entscheidungen.“ (einige Antifaschist*Innen aus Hannover)
Ein Umgang mit Repression ist nicht Sache einzelner sonder aller. Die Antwort auf die Repression gegen den breiten Widerstand in Lübeck sollte eine solidarische Haltung in gegenseitiger Bezugnahme aufeinander sein.
„Bei allen weltanschaulichen Unterschieden, eint uns der Wille, den Nazis Paroli zu bieten“ („Wir können sie stoppen“-Bündnis)
Und nu?
Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es noch keinen offiziellen Verfahrensstand. Alles was an Informationen existiert, sind die, teils unterschiedlich, mündlich formulierten Tatvorwürfe der Cops unseren Genoss*Innen gegenüber. Ob weitere Schritte seitens der Repressionsorgane eingeleitet werden bleibt vorerst unklar. Haltet eure Augen und Ohren offen!
einige Kieler Antifaschist*Innen im Mai 2011