Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen.
Wenn wir heute anlässlich der enrneuten, schwerwiegenden Nazi-Übergriffe auf linke Projekte in Kiel auf der Straße sind, lohnt es sich auch einmal mehr, einen Blick auf die Entwicklungen der Neonaziszene in Schleswig-Holstein zu werfen, denn aktiver Antifaschismus ist nur möglich, wenn wir ihre Strukturen und Akteure kennen – um Aufzuklären und zu Handeln.
Die heutigen Nazistrukturen sind ein Ausdruck eines allgemeinen Wandels innerhalb der schleswig-holsteinischen Naziszene. Die Strukturen des aus Ende der 1990ern hervorgegangenen Spektrums der „freien Kameradschaften“, welche Anfang des Jahrtausends die Führung in der schleswig-holsteinischen NPD übernehmen konnten, waren mit dem Versuch „Combat18“-Gruppen aufzubauen selbst für die deutschen Repressionsorgane zu weit gegangen. Wichtige Nazi-Aktivisten diese Spektrums – wie z.B. Peter Borchert – sahen sich mit Gefängnisaufenthalten konfrontiert, waren in in dessen Folge unter einander zerstritten und außerdem zumindest in der NPD politisch entmachtet worden.
Um 2005 war die schleswig-holsteinische Neonazisszene dominiert und geführt von einem sich eher spießbürgerlich gebenden NPD-Landesverband, der die Reste der offen gewalttätigen Kameradschaftsszene in sich integrieren und weitestgehend ruhig halten konnte. Darüber hinaus war nicht viel los. Öffentliche Auftritte von Nazis waren, das können wir zumindest für Kiel sagen, dementsprechend geprägt vom isolierten, regungslosen „Hinter-Bullenketten-Stehen“, umzingelt von wütenden AntifaschistInnen. In Anbetracht dessen wurden Versuche von Aufmärsche, Kundgebungen und Demos ob der wenig motivierenden Situation immer seltener. Mit Ausnahme des Wahlkampfauftaktes in Steinburg 2005 fand Nazigewalt selten am Rande von offiziellen Nazi-Veranstaltungen statt, sondern hauptsächlich in Verbindung mit Alkohol und abseits politischer Aktionen.
Vor etwa 2 Jahren änderte sich diese Tendenz in Schleswig-Holstein wieder: Die bundesweite Nazi-Trenderscheinung „Autonome Nationalisten“ erreichte auch den Norden und verbreitete sich in Kiel – wo dieser Prozess durch die Haftentlassung Peter Borcherts erheblich beschleunigt wurde – und nahezu im gesamten Bundesland. Selbsternannte „Aktionsgruppen“ sprossen wie Pilze aus dem Boden, mal als Internet-Phantom, oft aber auch begleitet von einem hohen, extrem gewaltfixierten Aktionismus. Bisherige Höhepunkte dessen waren z.B. die Angriffsserien auf linke bzw. alternative Läden in Kiel in den vergangenen 2 Jahren, der Brandanschlag auf das alternative Kulturzentrum T-Stube in Rendsburg letzten Sommer oder auch die verschieden Angriffen auf Antifas in Neumünster. Eine vollständige Aufzählung der Naziaktionen der letzten Jahre in Schleswig-Holstein würde hier den Rahmen sprengen.
Schwerpunkte dieser modernisierten Kameradschaftstrukturen mit Namen „Autonome Nationalisten“ haben sich seitdem vor allem in Kiel, im Kreis Steinburg, in Dithmarschen, aber auch in Neumünster oder in Rendsburg herausgebildet. Und diese sind untereinander vernetzt: Man fährt gemeinsam zu Nazidemonstrationen auch in andere Bundesländer, unterstützt sich gegenseitig bei eigenen Aktionen und betreibt ein gemeinsames Internetportal. Es sind z.B. auch mehrere Busse voller Nazis aus Schleswig-Holstein am 13. Februar 2010 zum erfreulicherweise verhinderten verhinderten Aufmarsch nach Dresden gefahren.
Auch im einzigen offen bestehenden Nazitreffpunkt in Schleswig-Holstein, dem Club 88 in Neumünster, hat die Wiederbelebung so genannter „freier“ Nazistrukturen Spuren hinterlassen: Aus dem erklärten Interesse dieser neuen Nazigeneration heraus, die Existenz eines ihrer bundesweit wenigen, ausdrücklich nationalsozialistischen Treffpunkte zu sichern und zu nutzen, scheint der Club 88 in den letzten 2 Jahren eine kleine Renaissance erlebt zu haben. Nicht nur dadurch, dass erstmalig wieder größere Veranstaltungen abseits der obligatorischen Geburtstagsfeiern stattfanden, sondern auch dass der Club88 wieder öfter als offene Infrastruktur für politische Tätigkeiten genutzt wurde.
In der Gesamtsituation gibt es allerdings im Unterschied zu früheren Jahren trotz der Erneuerung des offen neonazistischen und gewaltfixierten Spektrums keinen wahrnehmbaren Flügelkampf in der rechten Szene Schleswig-Holsteins. Im Gegenteil: Immer wieder wurde deutlich, dass „Aktionsgruppen“ und NPD, deren Mitglieder sich ohnehin überschneiden, eng miteinander kooperieren: Der insgesamt vergleichsweise spärliche Land- und Bundestagswahlkampf der NPD 2008 wäre ohne die Mithilfe der erlebnisorientierten Aktionsgruppen wohl noch dürftiger ausgefallen. Aktionsgruppen und NPDlerInnen hängten zusammen Plakate auf, verklebten Aufkleber und NPD-Vorzeigespießer Ingo Stawitz tuckerte einträchtig mit einer der Führungspersonen der „Aktionsgruppe Kiel“, Daniel Zöllner, in einem alten Wohnmobil durch Teile Schleswig-Holsteins und beschallte die Umwelt mit schlechten Reden.
Aber auch die „Aktionsgruppen“ durften wie schon bei den letztjährigen Kommunalwahlen wieder ihre eigene aktionistische Note mit in den Wahlkampf einbringen: In Kiel, vor allem im Stadtteil Wik, versuchten bewaffnete Neonazis die NPD-Nazipropaganda vor PlakatpflückerInnen zu beschützen, und im letzten September kam es zu einem brutalen Angriff auf eine Gruppe alternativer Jugendlicher in zeitlicher und räumlicher Nähe zu einer Anti-NPD-Wahlkampfparty in der Alten Meierei.
Dass es nun schon wieder zu zwei Angriffen auf linke Projekte in Kiel kam, nämlich auf den Buchladen Zapata und die Alte Meierei, von denen einer auch mit Schusswaffen durchgeführt wurde, ist Ausdruck einer qualitativen Verschärfung dieser allgemeinen Tendenz innerhalb der Naziszene. Diesen und allen anderen Betroffenen von Nazigewalt sprechen wir an dieser Stelle unsere ausdrückliche Solidarität aus!
Der derzeitige Zustand der schleswig-holsteinischen Nazisszene lässt sich also zusammenfassend als politisch nach wie vor an der NPD orientiert beschreiben, wobei die Partei auf die Unterstützung der oft jungen und motivierten „Aktionsgruppen“ angewiesen ist, sich aber auch auf diese verlassen kann. Im Gegenzug scheinen die zeitweisen Gewaltexzesse der Aktionsgruppen vom gemäßigteren Parteiflügel der NPD akzeptiert zu werden.
Eine kleine Erneuerung hat es mittlerweile auch wieder bei einer anderen rechten Partei gegeben: Die DVU, welche lange Zeit in Schleswig-Holstein und fast im ganzen Bundesgebiet nur auf dem Papier existierte, versucht seit kurzem mit neuen Leuten wie dem Ex-NPDler Kevin Stein in Nordfriesland und dem bundesweit bekannten Neonazi-Kader Christian Worch wieder aus der Versenkung hervorzutreten. Sie kündigt öffentliche Auftritte und Propagandaaktionen an. Erstes wahrnehmbares Zeichen hinter diesen Ankündigungen war eine Kundgebung in Husum vor einer Woche, der nun noch mehr folgen sollen. So will die DVU am 17. April in Plön eine Kundgebung abhalten, zu der wir natürlich eine entsprechende Antwort finden werden.
Wie auch immer: Die insgesamt erstarkte offen neonazistische Szene in Schleswig-Holstein, die das Fundament der gewalttätigen Aktionen gegen linke und alternative Einrichtungen und Menschen ist, macht eine offensive alltägliche antifaschistische Praxis und das Anliegen der heutigen Demonstration umso erforderlicher. Beim Kampf gegen die Nazis verlassen wir uns jedoch weder auf unregelmäßige Versuche die Nazi-Organisationen zu verbieten, noch stellen wir irgendwelche Forderungen an die Polizei oder andere staatliche Organe, weil wir wissen, dass in der Logik des Staates auch wir als linke AntifaschistInnen durch den Verfassungsschutz und seine Extremismustheorie zu Feinden erklärt werden.
Wir vertrauen auf das solidarische Zusammenstehen aller emanzipatorischen Menschen gegen die Nazis und wir nehmen die Sache selber in Hand:
Nazi-Aktionsgruppen, NPD, DVU und alle anderen rassistischen, nationalistischen und antisemitischen Banden zerschlagen!
Übernehmt Verantwortung: Organisiert die autonome Antifa!