Redebeitrag zum Tag der Befreiung, Antifa-Kundgebung in Kiel am 8.5.2010

Liebe Kieler und Kielerinnen,
liebe Antifaschisten und Antifaschistinnen!
Wir haben uns hier heute in der Kieler Innenstadt versammelt, um an eines der zentralsten Ereignisse der Zeitgeschichte zu erinnern: Denn vor genau 65 Jahren, am 8. Mai 1945 kapitulierte das nationalsozialistische Deutsche Reich bedingungslos vor den Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Deutschland war endlich von den Truppen der Anti-Hitler-Koalition eingenommen, nachdem dem deutschen Vernichtungskrieg in ganz Europa und dem industriellen Massenmord in den Konzentrationslagern der Nazis Abermillionen Menschen zum Opfer gefallen waren. Die Herrschaft des Nationalsozialismus war am 8. Mai 1945 nach 12 Jahren des Terrors gegen Juden und Jüdinnen, die Bevölkerung Osteuropas, politische GegnerInnen, insbesondere KommunistInnen und SozialdemokratInnen, Sinti und Roma, Homosexuelle, sogenannte „Asoziale“ und alle anderen, die nicht dem nationalsozialistischen Weltbild entsprachen oder sich widersetzten, zerschlagen. Der 8. Mai 1945 war für alle Menschen, die noch von der Mord- und Unterdrückungsmaschinerie Nazideutschlands bedroht waren und für alle, die in Gegnerschaft zu ihr standen, ein Tag der Befreiung. Wie viele Menschen weltweit sagen auch wir heute, am 65. Jahrestag der Befreiung: Spasibo – Thank you – Merci – Danke und verneigen uns respektvoll vor den KämpferInnen der Anti-Hitler-Streitkräfte, den antifaschistischen PartisanInnen, den Aufständischen im Warschauer Ghetto, dem Häftlingswiderstand in den Konzentrationslagern, den UntergrundaktivistInnen der antifaschistischen Minderheit in Nazideutschland und allen anderen, die mit vereinten Kräften die deutsche Kapitulation herbeigeführt haben. Doch war diese mindeste Geste, die wir für Selbstverständlich halten, der bloße Dank gegenüber den Befreiern oder gar das Ziehen der naheliegenden politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen aus dem deutschen Massenmord infolge des 8. Mai 1945 eine Selbstverständlichkeit im Nachkriegs-Deutschland? Mitnichten! Und erst recht nicht in Schleswig-Holstein. Ein Blick in die Geschichte der postfaschistischen BRD und insbesondere ihres nördlichsten Bundeslandes verdeutlicht dies.

 

Schleswig-Holstein wurde Anfang Mai als eine der letzten verbliebenen Bastionen Nazideutschlands von britischen Truppen befreit. Lübeck erreichten diese am 2. Mai, der kriegswichtige Marinestandort Kiel folgte zwei Tage später kampflos. Mit der Kapitulation am 8. Mai war der NS-Mustergau Schleswig Holstein, wo die NSDAP schon überdurchschnittlich früh überdurchschnittlich hohe Wahlergebnisse erreichte, nahezu unter alliierter Kontrolle – mit Ausnahme Flensburg-Mürwiks, wo sich die nationalsozialistische Regierung Dönitzs noch zwei Wochen verschanzt hielt.
Mit ihr, darunter auch der Hauptorganisator der Shoa Heinrich Himmler, kamen in den letzten Kriegswochen zahlreiche Nazigrößen und Karrieristen in den Norden. Sie ließen sich, teils unter neuer Identität, nieder oder versuchten, von hier aus ihre Flucht zu organisieren. Ebenso siedelten gegen und nach Ende des Krieges über eine Million Flüchtlinge aus den ehemals zu Deutschland gehörenden und heutigen polnischen und russischen Gebieten in Osteuropa nach Schleswig-Holstein über. Teils um den Vergeltungsmaßnahmen der Roten Armee zu entgehen, teils weil es die infolge des Krieges veränderten Grenzverläufe erforderten.
Mit dem 8. Mai war zwar auch in Schleswig-Holstein die politische Herrschaft der NSDAP und ihres Staates vorüber, dennoch sollte sich die brisante Mischung aus hier sesshaft gewordenen Eliten Nazideutschlands, zum Revanchismus und Geschichtsrevisionismus neigenden Umgesiedelten und der Bevölkerung der langjährigen Nazihochburg auch nach 1945 nachhaltig auf die politische Kultur zwischen Nord- und Ostsee auswirken. Dass diese alles andere als durch eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der uneingeschränkten deutschen Schuld an Massenmord und Krieg geprägt sein sollte, zeigte sich an vielerlei Beispielen: Nicht nur im Landtagswahlergebnis 1950, bei dem der NS-relativierende „Block der Heimatvertiebenen und Entrechteten“23,4% der Stimmen erlangte – dieser ging übrigens später in der CDU auf! – oder in der Tatsache, dass die sodann gebildete Landesregierung fast ausschließlich aus ehemaligen NSDAP-Mitgliedern bestand; sondern auch darin, dass Massenmörder wie der Leiter des NS-Euthanasieprogramms Werner Heyde gedeckelt von der schleswig-holsteinischen Elite unter dem Phantasienamen Sawade weiter Karriere als Arzt machen konnten, während die Opfer des Naziterrors vielfach vergeblich um ihre Entschädigungsansprüche kämpfen mussten. Dass alte Nazifunktionäre auch in der postfaschistischen BRD wieder in den Spitzenpositionen saßen, war keine schleswig-holsteinische Besonderheit. Wie offen und unwidersprochen dies geschah, dagegen schon. Unter solchen Voraussetzungen verwundert es wenig, dass eine Auseinandersetzung mit der eigenen Nazivergangenheit auf der offiziellen Ebene, insbesondere im konservativen Lager, bis in die 1980er nicht stattfand. Bis dahin übte man sich in entsprechenden Kreisen darin, die Schuld der Deutschen zu relativieren und maximal auf eine kleine verbrecherische Naziclique zu reduzieren und das vermeintliche Leid so bezeichneter „deutscher Opfer“ zu betrauern. Als Lehre aus dem NS wurde vielerorts ausgerechnet die unbedingte Verfassungstreue und – ganz im Sinne der Demagogie des Kalten Krieges und seiner Totalitarismustheorie – das Weiterkultivieren des nationalsozialistischen Antikommunismus in Form der ideologischen und damit undifferenzierten Hetze gegen die realsozialistischen Staaten des Ostblocks und alles Linke verstanden. Die Absurdität dieser Schlussfolgerung verdeutlichte sich in der Tatsache, dass ehemalige antifaschistische Verfolgte, vor allem KommunistInnen, nur wenige Jahre nach Ende der Naziherrschaft insbesondere im Zuge des KPD-Verbots 1956 wieder von massiver staatlicher Repression betroffen waren; nicht selten durchgeführt von den zahlreichen im Amt gebliebenen ehemaligen Nazirichtern. Der 8. Mai 1945 wurde dagegen in weiten Teilen des politischen Mainstreams, gerade auch in Schleswig-Holstein, noch lange als „Niederlage“ oder „Katastrophe“ bewertet. In diesem Sinne bekämpfte die etablierte Politik noch Anfang der 1980er offen antifaschistische Geschichtsinitiativen, die endlich mit der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein begannen. Hört man sich die gegenwärtigen Verlautbarungen von offizieller Seite an, fällt auf, dass sich das Vokabular des herrschenden Diskurses zum 8. Mai ohne Zweifel gewandelt hat. Spätestens mit der Rückkehr Deutschlands auf die Bühne internationaler Großmächte nach der Wiedervereinigung setze sich diese Tendenz durch. Auch an der schleswig-holsteinischen Provinz ist dies nicht vorbei gegangen. Die Kriegsschuld der Deutschen, die Singularität der Shoa und die Verwicklung überwiegender Teile der deutschen Bevölkerung in die NS-Mordmaschine sind im Gegensatz zu konservativen Verlautbarungen aus den 1980ern zumindest als Worthülsen weitestgehend im politischen Mainstream anerkannt. Paradoxerweise erfüllen sie damit aber zugleich den Zweck, sich nicht den logischen Konsequenzen aus diesen unumstritten richtigen Erkenntnissen zu stellen. Man gibt sich im wiedererstarkten Deutschland 2010 als selbsternannte „geläuterte Nation“, die aus ihrer Vergangenheit gelernt habe und gerade deshalb eine besondere Verantwortung in der Welt trage: Der rot-grüne Angriffskrieg der Bundeswehr auf Jugoslawien, mit dem 1999 erstmals seit 1945 deutsche Machtinteressen auf dem Balkan durchgebombt wurden, wie auch die darauf folgenden deutschen Kriegseinsätze, wurden mit der Begründung nicht trotz, sondern wegen Auschwitz, propagandistisch möglich. Und nicht zuletzt sieht sich die möchtegern-geläuterte Bundesrepublik gerade deshalb in der Berechtigung, nun endlich einen Schlussstrich unter seine Nazigeschichte ziehen zu können, wieder Stolz auf den schwarz-rot-gelben Wimpel sein zu dürfen und der angeblich „vergessenen deutschen Opfer“ zu gedenken. Und ganz in diesem Sinne wird erinnerungspolitisch der Fokus dieser Tage vor allem auf die Abrechnung mit der so bezeichneten „zweiten deutschen Diktatur“, womit dann die realsozialistische DDR gemeint sein soll, gelenkt. Dass gerade aktuell verstärkt auch wieder der altbekannte deutsche Antikommunismus in Form der Ideologie des „Antiextremismus“ aufgefrischt zurück auf die Tagesordnung des herrschenden Diskurses geschmissen wird, macht den Akt des Verdrängens der mörderischen deutschen Geschichte durch die Hintertür perfekt. Wir als Antifaschist/-innen sehen keinen Anlass und keine Berechtigung dafür, uns auch nur ansatzweise in den Chor der möchtegern-geläuterten Schlussstrichzieher einzureihen. Die Vernichtung des Faschismus und seiner Wurzeln bleibt unser Ziel! Aus unserem Bezug auf den 8. Mai 1945 leiten wir zentrale Verpflichtungen für das hier und jetzt ab. Die unumstrittene Pflichtübung ist selbstverständlich der unversöhnliche Kampf gegen den offenen Neonazismus. Insofern erinnern wir uns gerne an das vergangene Jahr zurück, als 200 AntifaschistInnen am 8. Mai 2009 genau hier erfolgreich einen geschichtsverdrehenden Propagandastand von einem Häuflein Neonazis erfolgreich zum vorzeitigen Abbruch zwangen.
Eine viel aufwändigere Verpflichtung antifaschistischer Kämpfe allerdings resultiert aus dem Umstand, dass am 8. Mai 1945 zwar die Herrschaftsstrukturen des NS-Staates beseitigt wurden, ein umfassendes gesamtgesellschaftliches Problembewusstsein für die Grundlagen des Nationalsozialismus, eine breite Auseinandersetzung mit ihnen und die daraus zu ziehenden Konsequenzen, dagegen bis heute ausgeblieben sind.
Auf lokaler Ebene schlägt sich dieses Versäumnis – das sein am Rande erwähnt – nicht zuletzt auch in der unerträglichen Berichterstattung der allseits bekannten Kieler Nachtrichten über besagte Aktion nieder, die – wir zitieren den unglaublichen Originalwortlaut – von einem „Infostand der Rechten“, „auf dem etliche Informationsblätter lagen“ weil „vor 64 Jahren […] am 8. Mai der Zweite Weltkrieg [endete]“, auf den „Mitglieder des Runden Tisches gegen Rassismus und Faschismus versuchten, mit Lautsprecherdurchsagen […] aufmerksam zu machen“ (!) (KN-online, 8.5.09)“ schwafelte. Für uns ist unbestreitbar: Es war eben höchstens am Rande die magische „Verführungskraft“ einer mystischen „teuflischen Machtclique“, die den NS möglich machte, sondern in allererster Linie der völkische Antisemitismus, der Rassismus, der chauvinistische Nationalismus, der Hang zum Autoritarismus und Militarismus, der Untertanengeist und der Hass auf gesellschaftliche Befreiung und Gleichheit, die allesamt seit Konstruktion der Nation im 19. Jahrhundert fest in der Identität der Deutschen verankert sind. All diese ideologischen Grundlagen ermöglichten, dass eine deutsche Mehrheitsbevölkerung den Nationalsozialismus trug und seine Beseitigung militärisch von außen durchgesetzt werden musste. Diese Elemente wachsen auch heute noch unvermeidbar in der Mitte der bürgerlich-kapitalistischen BRD-Gesellschaft: Unumgänglich basiert diese wie gehabt auf Unterdrückung und Ausbeutung, die Schuld an diesem unbewusst selbstverschuldeten Elend schreibt sie jedoch, anstatt den irrationalen Verhältnissen, laufend vermeintlich außerhalb der Gesellschaft stehenden Feindbildkonstruktionen zu; seien diese nun „faule Arbeitslose“, „linke ExtremistInnen“ „terroristische Muslime“, „unkontrollierte afrikanische Flüchtlingsströme“ oder „das raffende Kapital von der us-amerikanischen Ostküste“.
Die in kürzester Zeit entwickelbare potentielle Vernichtungskraft bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften gegen diese immer wieder herbeihalluzinierten Feindbilder ist und bleibt, gerade in Zeiten kapitalistischer Krisen wie der gegenwärtigen, eine reelle Bedrohung für die Menschlichkeit. Den 8. Mai zu feiern heißt für uns: Das Gedenken an den millionenfachen Massenmord Nazideutschlands wach halten, den Kampf gegen alle neofaschistischen Strukturen im Hier und Jetzt unnachgiebig fort führen und mit Nachdruck an der emanzipatorischen Überwindung bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse und ihres Vernichtungspotentials arbeiten! Nicht nur am 8. Mai: Feiern – Gedenken – Antifaschistisch kämpfen! Für die Fortführung der Befreiung der Menschheit vom Faschismus mitsamt seiner Wurzeln!