14.07.18
14:00
Kein Schlussstrich nach dem Urteil im NSU-Prozess!
Versäumnisse benennen, Aufklärung durchsetzen, Rassismus entgegentreten
Samstag, 14. Juli 2018: Bündnis-Demonstration
14 Uhr | Hansa-Platz (St. Georg)
Gemeinsame Bahn-Anreise aus Kiel:
Treffen: 12 Uhr HBF / Abfahrt des RE: 12:27 Uhr
Im Frühsommer wird voraussichtlich das Urteil im NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte in München fallen. Wir sind auch nach viereinhalb Jahren und über 400 Verhandlungstagen der Meinung, dass die Aufklärung durch den Prozess vollkommen ungenügend bleibt und es keinen Schlussstrich im NSU-Komplex geben darf. Die Überlebenden des Naziterrors und die Angehörigen der zehn durch den NSU ermordeten Menschen fordern weiterhin Aufklärung, weil auch der Prozess von Beginn an weder das Umfeld des NSU noch die staatlichen Verstrickungen in diese Szene beleuchtete. Die Bundesanwaltschaft (BAW) fokussierte schon in ihrer Anklageschrift darauf, dass das Kerntrio eine „bestmöglich nach außen abgeschottete“ und von „ihren bisherigen Freunden weitgehend abgekapselte“ terroristische Vereinigung gewesen sei. Diese Linie durchzog die Verhandlungsführung in München seitens der BAW und wird sich voraussichtlich auch in dem Urteil widerspiegeln. Auch das Gericht zeigte wenig Interesse daran, dem Aufklärungsbedürfnis der Opfer und Angehörigen nachzukommen und bügelte viele Beweisanträge von deren AnwältInnen ab.
Obwohl es um die fünf Angeklagten ein ganzes Netzwerk von Nazis gab, durchsetzt mit Dutzenden von V-Personen aus Polizei und Verfassungsschutz, zeigte das Gericht wenig Interesse daran, dieses Netzwerk zu ermitteln. So bleibt selbst die Anwesenheit des Verfassungsschützers Andreas Temme bei der Ermordung von Halit Yozgat ohne hinreichende Erklärung. Auch der zweite parlamentarische NSU-Bundestagsausschuss betonte im Abschlussbericht, dass die BAW nicht ausermittelt habe: „Allerdings wäre nach Anklageerhebung eine breitere Ermittlungskonzeption möglich und aus Sicht des Ausschusses auch geboten gewesen.“
Einseitige Ermittlungen auch in Hamburg
In Hamburg ermordete der NSU am 27. Juni 2001 den Kaufmann Süleyman Taşköprü in seinem Laden. Die folgenden Ermittlungen waren bis zur zufälligen Selbstenttarnung des NSU im November 2011, ähnlich wie im gesamten Bundesgebiet, extrem einseitig und teilweise rassistisch konnotiert. Die Ermittler kamen zum größten Teil aus der Abteilung für „Organisierte Kriminalität“, ermittelten fast ausschließlich im familiären und migrantischen Umfeld des Opfers und blendeten einen möglichen rassistischen Hintergrund systematisch aus. Aussagen des Vaters des Mordopfers bezüglich deutscher Verdächtiger am Tatort blieben ebenso unberücksichtigt, wie weitere Zeugenaussagen, welche einen neonazistischen oder rassistischen Hintergrund erwogen. Obwohl die bundesweite Mordserie weiterging, wurden die Hamburger Ermittlungen Ende 2003 für zwei Jahre sogar gänzlich eingestellt. 2005 wurden Vater Taşköprü Phantombilder vorgelegt, welche die Mörder eines anderen NSU-Opfers zeigten und bei denen dieser „eine gewisse Ähnlichkeit“ wahrgenommen hatte. Verfolgt wurde diese Spur ebenfalls nicht. Am fatalsten war jedoch die massive Ablehnung der Fallanalyse durch den bayrischen Profiler Horn. Dieser hatte 2006 im bundesweiten Ermittlungszusammenschluss BAO Bosporus die neue Analyse vorgelegt, dass die Täter aus dem rechten Milieu stammten und aus „Türkenhass“ gehandelt hätten. Dieser einzig richtige Ermittlungsansatz wurde insbesondere durch das Hamburger LKA massiv diskreditiert. Sogar im Medienkonzept des Hamburger LKA sollte die Theorie einer rassistischen Mordserie verschwiegen werden, schließlich war 2006 das Jahr der deutschen Fußball-WM. Stattdessen wurden das Mordopfer und sein Vater in den Hamburger Ermittlungen mit diskriminierenden Stereotypen bis hin zu einer rassistischen Beleidigung gekennzeichnet.
Auch Hamburg braucht weiterhin Aufklärung
2012 erklärte der damalige Innensenator Michael Neumann (SPD): „Nur durch die rückhaltlose Aufklärung aller Fakten, nur durch absolute Offenheit kann es uns gelingen, verlorenes Vertrauen gerade bei den Zuwanderinnnen und Zuwanderern zurück zu gewinnen.“ Gehandelt hat der Hamburger Senat allerdings gänzlich anders. Hamburg ist das einzige Bundesland im NSU-Komplex, welches noch keinen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) hatte, welcher Zeugen unter Eid vernehmen und vertrauliche Akten beiziehen kann. Bürgerschaftsanfragen der Opposition wurden meist ausweichend oder unzureichend beantwortet, oftmals mit der Begründung von Geheimhaltung oder laufenden Ermittlungen in München. Im Innenausschuss verschwiegen die VertreterInnen von Polizei, Geheimdienst und Staatsanwaltschaft häufig wichtige Erkenntnisse aus den Akten, beschuldigten Ermittler anderer Bundesländer der Versäumnisse oder belogen sogar einzelne Abgeordnete, welche die Akten ja nicht kannten. Insgesamt rechtfertigte der Senat das gesamte Hamburger Vorgehen zum NSU-Komplex und der Innensenator erklärte, es sei seine Aufgabe „sich vor meine Mitarbeiter zu stellen“. Die mangelnde Aufarbeitung gipfelte in einem 87seitigen Bericht „Der NSU–Ermittlungen, Aufarbeitung, Konsequenzen in Hamburg“, der laut Vorwort den Anspruch erhebt, einem PUA-Bericht zu entsprechen. Die PUA-Berichte aus dem Bund oder anderen Bundesländern haben jedoch mehrere hundert bis weit über tausend Seiten. Der Senatsbericht wurde von denjenigen erstellt, welche für das Behördenversagen verantwortlich waren, es waren daran weder Abgeordnete der Opposition beteiligt, noch wurden unabhängige ExpertInnen gehört oder Akteneinsicht gewährt. Für die immer noch falsche Behauptung „die ergebnisoffenen Ermittlungen … umfassten auch die Ermittlungshypothese rechtsextremistischer, fremdenfeindlicher oder anders politisch motivierte Tathintergründe“, findet sich im Senatsbericht kein einziger Quellenbeleg. Nach dem Münchner Urteil darf weder dort noch in Hamburg ein Schlussstrich gezogen werden!
Die Opfer und ihre Angehörigen werden allein gelassen
Schon 2014 erklärte Aysen Taşköprü, die Schwester des Ermordeten, in einem Offenen Brief: „Eine weitere bittere Erfahrung ist, dass wir uns von der Politik nicht ausreichend unterstützt fühlen… Lückenlose Aufklärung bedeutet für mich: Freigabe aller Akten. Doch alle Anträge dazu vonseiten unserer Anwälte wurden abgelehnt. Auch die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss in Hamburg wurde abgeschmettert.“ Aysen Taşköprüs Brief kann allerdings auch als Aufforderung gelesen werden, dass sich die Gesellschaft insgesamt verstärkt mit vorhandenen Rassismen auseinandersetzen muss. „Warum tut ihr euch so schwer mit Menschen unterschiedlicher Nationalität und Hautfarbe“, fragte sie. Integration sei keine alleinige Aufgabe der MigrantInnen, sondern auch eine der Mehrheitsgesellschaft, Rassismus ein gesellschaftliches Problem.
Diese Mahnungen bekommen insbesondere durch das Erstarken der AfD und ihres Umfeldes eine besondere Bedeutung. Selbst die Gefahr eines rechten Terrorismus ist nicht gebannt, wie die Ermittlungen zum Bundeswehrsoldaten Franco A., zur „Terrorgruppe Freital“, die als „Amoklauf“ pathologisierten Morde in München 2016, aber auch die Tat eines Finanzbeamten und Feierabendterroristen aus Hamburg zeigen, der 2015 eine Unterkunft für Geflüchtete in Brand setzte. Es war ein Klima voll rassistischer und menschenverachtender Hetze, in dem der NSU entstehen konnte, die Parallelen zur heutigen Gesellschaft sind erschreckend. Selbstkritisch bleibt anzumerken, dass die linke antirassistische und antifaschistische Bewegung, die damals noch „Dönermorde“ genannte Mordserie ebenfalls falsch eingeschätzt hatte, während Angehörige schon 2006 in Kassel unter der Parole „Kein zehntes Opfer“ demonstrierten. Das Urteil in München sollte auch uns daran erinnern den Rassismus in Staat und Gesellschaft weiterhin in den Fokus zu nehmen.
Solidarität bedeutet:
Vollständige Aufklärung über das NSU-Netzwerk sowie seine staatliche Verstrickung
Auch Hamburg braucht einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss
Solidarität mit den Opfern des NSU und deren Angehörigen – Entschädigung und Entschuldigung
Institutionalisierter Rassismus muss erkannt und beseitigt werden
Heute sind die AfD und ihr völkisches Umfeld der Nährboden für rechte Gewalt – sie müssen entschlossen bekämpft werden
Keinen Schlussstrich – Das Problem heißt Rassismus