Zu Höchstzeiten 250 Antifaschist*innen demonstrierten am Sonntagnachmittag gegen ein potentielles Superspreader-Event von mindeststens 600 rechtsoffenen „Querdenkern“ in Kiel. Ab 13.30 Uhr fand an der Kiellinie die Gegenkundgebung antifaschistischer Gruppen unter dem Motto „Rotfront statt Querfront“ statt.
In verschiedenen Redebeiträgen wurde nicht nur auf den sozidaldarwinistischen und verschwörungsideologischen Charakter der Pandemie-Verharmloser*innen und -leugner*innen sowie deren Offenheit für antisemitische und neofaschistische Akteur*innen eingegangen, sondern auch ihre Positionierung an der Seite der Kapital-Lobby kritisiert, die ihren Profit gegen die Gesundheit der Menschen durchsetzt. Zudem lenkten die dort angesprochenen Luxusprobleme wie eine partielle Maskenpflicht von den eigentlichen gesellschaftlichen Problemen ab, die sich unter Corona verschärft haben.
Parallel hatten der selbsternannte Corona-Widerstand um ihren lokalen Organisator Björn Dinklage/Björn de Vil und seine zahlreichen bundesweiten Unterstützer*innen aus den „Querdenken“-Strukturen mit dem Aufbau einer Bühne auf der benachbarten Reventlouwiese begonnen. Hier versammelten sich im Laufe des Nachmittags über 600 Menschen. Viele von ihnen waren aus anderen Städten angereist, darunter auch der als „Volkslehrer“ bekannt gewordene Antisemit, Rassist und Videoblogger Nikolai Nerling aus Berlin und andere bekannte Protagonist*innen der extremen Rechten. Etwa dreieinhalb Stunden konnte hier ohne Masken und die Einhaltung von Abständen ein buntes Potpourri aus „alternativen Fakten“, waghalsigen Theorien, esoterischem Quatsch, reaktionären Ideologien, egoistischer Ignoranz und gesellschaftlicher Verantwortungslosigkeit verbreitet werden.
Als sich Gegendemonstrant*innen von der Antifa-Kundgebung auf den Weg zur Reventlouwiese machten, um dort ihren Widerspruch in Sicht- und Hörweite vorzutragen, wurden diese auf halber Strecke durch einen brutalen Polizeieinsatz gestoppt. Mindestens eine Person wurde hierbei vorläufig in Gewahrsam genommen, der Durchgang an der Kiellinie war fortan für Antifaschist*innen abgeriegelt. Nichtsdestotrotz gelang es kleineren Gruppen von Gegendemonstrant*innen immer wieder, ihren Protest an die rechtsoffene Versammlung heranzutragen, wurden dabei jedoch immer wieder durch die Polizei behindert.Die antifaschistische Kundgebung wurde als Kontrapunkt bis zum Ende der „Querdenker“-Veranstaltung aufrechterhalten. Immer wieder wurden hier Durchsagen gemacht und hunderte Flugblätter an Passant*innen verteilt. Wiederholt konnten hier auch Reaktionär*innen auf den Weg zu ihrer Kundgebung konfrontiert werden. Auch hier sabotierte die Polizei im Laufe des Nachmittags jedoch die antifaschistische Gegenöffentlichkeit, indem sie begann, grundlos die Spaziergänger*innen umzuleiten und so die Reichweite der Kundgebung einzuschränken.
Insbesondere der Polizei haben es die Pseudo-Rebell*innen zu verdanken, dass ihre Kundgebung ohne größere Störungen verlaufen konnte, obwohl sie wie schon zwei Wochen zuvor in Berlin mit Ansage und vor den Augen der Ordnungshüter*innen gegen sämtliche Hygiene-Auflagen verstießen. Die Versammlung war ohne Frage die bisher weitaus größte seiner Art in Kiel, wurde jedoch maßgeblich von den bundesweiten Strukturen der „Querdenker“ mitgetragen und fand im Rahmen von deren Mobilisierung nach Berlin Ende des Monats statt. In der kommenden Woche soll ein ähliches Spektakel an der Hafenspitze in Flensburg stattfinden, auch hier rufen Antifaschist*innen zu Gegenaktionen auf.
Für Kieler Antifaschist*innen ist die größte Herausforderung im Umgang mit der unseligen Mischszene auch zukünftig nicht, dass es dieser gelungen wäre, sich eine große Basis in der Stadt aufzubauen, sondern die mittlerweile hergestellte Anbindung von deren Hauptorganisator*innen an bundesweite Strukturen des Spektrums. Kundgebungen dieser Größenordung lassen sich für Dinklage und seine Mitstreiter*innen folglich keineswegs wöchentlich wiederholen. Dass es in den kommenden Monaten jedoch weitere Versuche gegen könnte, ähnliches auf den Weg zu bringen, ist nicht ausgeschlossen. Für diesen Fall sollten sich Antifaschist*innen schon jetzt spektrenübergreifend wappnen, auch um mehr Handlungsfähigkeit zu erlangen und die gestern offenbarte Polizeistrategie, den Gegenprotest möglichst unsichtbar zu machen, ins Leere laufen zu lassen.
Gedankt sei allen Menschen, die gestern bei sommerlicher Hitze und unter schwierigen Bedingungen über Stunden an der Kiellinie ausgeharrt und der anti-solidarischen Märchenstunde nicht den Raum überlassen haben, im Speziellen auch den Genoss*innen, die durchgehend eine Versorgung mit Wasser und Snacks bereit gestellt haben. Bereits am Samstagabend hatten sich zudem etwa 70 Menschen an der Vorabenddemo von Fridays for Future Gaarden gegen die kontrafaktische Leugnung von Klimawandel und Corona-Virus durch rechte Irrationalist*innen unter dem Motto „Unite Behind The Science“ in der Kieler Innenstadt beteiligt.