Über 700 Menschen auf antifaschistischer Demonstration in Kiel-Gaarden – „Nazis raus – Mieten runter“ – Schlagloch bleibt – Li(e)ber Anders wird weiter aktiv am Aufbau solidarischer Strukturen arbeiten
Am Abend des 18.1.2019 demonstrierten über 700 Menschen in Kiel-Gaarden für einen solidarischen Stadtteil & gegen Naziangriffe, Rechtsruck und Verdrängung. Anlass der Demo war der in der Nacht vom 19.12. verübte rechte Brandanschlag auf den Stadtteilladen Li(e)ber Anders, bei dem ein Haufen politischer Transparente vor der Tür des Ladens angezündet wurde, die zwei Monate zuvor am besetzten Wagenplatz Schlagloch entwendet wurden. Nur weil aufmerksame Anwohner_innen die Feuerwehr verständigten, konnte in der Nacht schlimmeres verhindert und der Sachschaden sehr übersichtlich gehalten werden. In den Wochen vor dem Anschlag wurden zudem immer wieder Nazi-Kritzeleien an das Haus und die Eingangstür des Li(e)ber Anders geschmiert. Die Indizien lassen also klar auf einen rechten Hintergrund der Täter*innen schließen. Dabei fügt sich die Tat in eine Reihe rechter Brandanschläge der letzten Monate ein, so etwa in Berlin und im Rhein-Main-Gebiet, die konkreter und direkter Ausdruck eines zunehmenden globalen Rechtsruck sind.
Als Reaktion auf den Anschlag wurden die Aktivitäten im Li(e)ber Anders wieder verstärkt aufgenommen, u.a. wurde direkt nach dem Anschlag zu einem gut besuchten antifaschistischen Fest der Solidarität eingeladen. Zudem wurde bei einem Stadtteilspaziergang Anwohner_innen und Gewerbetreibende im Stadtteil über den Anschlag informiert und für die Demonstration mobilisiert. Dabei sollte sich die Demonstration thematisch nicht nur auf diesen Naziangriff beschränken, sondern die Vorstellung eines solidarischen Stadtteils in den Vordergrund stellen, für die auch das Ladenprojekt des Li(e)ber Anders steht: Für einen Stadtteil ohne Ausbeutung, Unterdrückung und Ausgrenzung.
Die Auftaktkundgebung startete um 18 Uhr am Vinetaplatz mit Musik und ersten Redebeiträgen. Nach der Begrüßung durch das Demonstrationsbündnis wurden in einem Beitrag über aktuelle Entwicklungen um den Laden „PLS-Werkzeuge“ am Vinetaplatz 3 berichtet, der vom bekannten Neonazi und Bandido-Rocker Alexander Hardt geführt wird. Nach mehrjähriger Schließung hat das Geschäft seit einigen Monaten wieder regelmäßig geöffnet und in diesem Zeitraum kam es mindestens zu einem Übergriff aus dem Laden auf Anwohner*innen, die für vermeintliche Antifaschist*innen gehalten wurden. Neuerdings funktioniert das Geschäft als Paketshop für die DHL und damit fallen dem Neonazi Hardt die persönlichen Daten von Anowohner_innen des Stadtteils in die Hände, falls das Paket nach einer Lieferung mit DHL im Laden hinterlegt wird. Abschließend wurden die Anwohner_innen dazu aufgerufen, sich so lange beim Paketdienst DHL über die Situation zu beschweren, bis dem Naziladen der Status als offizieller Paketshop wieder entzogen wird. Hardt selbst beobachtete die Kundgebung mit einer handvoll anderer Gestalten vor seinem Laden rumlungernd.
Anschließend folgte ein Redebeitrag der Offenen linksradikalen Plattform, die sich seit Winter letzten Jahres regelmäßig in den Räumen des Li(e)ber Anders trifft. In ihrem Beitrag betonte die Plattform die Tradition und Kontinuität rechter Anschläge, die immer wieder billigend den Mord von Menschen in Kauf nehmen. Als Antwort darauf wurde eine solidarische Kiezarbeit eingefordert, die sich sowohl gegen rechte Übergriffe und Anschläge richtet, als auch solidarische Antworten auf Verdrängungsprozesse durch Aufwertungsprozesse und profitorientierte Abzockerunternehmen wie Vonovia und Deutsche Wohnen SE finden muss.
Daran anschließend berichtete ein Vertreter des Bündnis für bezahlbaren Wohnraum über die Wohnungssituation in Kiel und speziell über die Aktivitäten des Wohnungsunternehmens VONOVIA in Gaarden. Das Unternehmen besitzt durch Ankäufe mittlerweile 3000 Wohnungen im Stadtteil, viele davon fallen ab dem 1.1.2019 aus der Sozialbindung heraus, so dass erhebliche Mietsteigerungen zu erwarten sind. Zusätzlich sollen 600 Wohnungen modernisiert werden, wodurch drastische Mietpreisanstiege zu befürchten sind. Doch gegen die Machenschaften des Unternehmens regt sich auf Widerstand: So wurde jüngst zu einem Mieter*innentreffen geladen, um sich gegen VONOVIA zu organisieren. Bei einem ersten Treffen waren knapp 100 Menschen, die direkt von der Abzocke und den menschenunwürdigen Zuständen unter Vonovia betroffen sind und sich gemeinsam gegen diese Schweinerein zur Wehr setzen wollen. Weitere Treffen folgen in den nächsten Wochen.
Anschließend setzte sich die Demonstration in Bewegung und bereits dort konnte bereits erahnt werden, dass die Zahl der Teilnehmer*innen die Erwartungen übertreffen werden und schließlich haben sich über 700 Menschen der Demonstration angeschloßen. Viele Anwohner*innen fühlten sich von den Themen der Demo angesprochen, blieben stehen, standen an den Fenstern und schlossen sich spontan den Parolen an. Am Alfons-Jonas-Platz wurde die erste Zwischenkundgebung abgehalten. Die Autonome-Antifa-Koordination Kiel rekapitulierte in ihrem Redebeitrag die Nazi-Aktivitäten der letzten Jahre in Kiel, gab dabei auch einen Überblick zu aktuellen Strukturen, wo neben dem bereits genannten PLS-Werkzeuge auch der Nazi-Haufen Bollstein Kiel aus Mettenhof genannt wurde. Die Gruppe um den altbekannten Nazi Mario Herrmann versuchte anfangs als unpolitischer Freizeitfussballverein aufzutreten, was sich neben den Nazinhintergründen und rassistischen Verhalten einzelner Mitglieder spätestens durch das Auftauchen eines großen Teils des Bollstein-Umfelds auf der Wahlliste des NPD-Tarnvereins „WAKB“ bei den Kommunalwahlen 2013 erledigt hatte. Auch aktuell ist die Gruppierung in verschiedenen rechten Kreisen aktiv, neben dem „Schutz“ von AfD-Ständen in Neumünster und Kiel und der Nazikneipe in Neumünster, nahmen mehrere Mitglieder in Gruppenshirts an den letzten Hess-Aufmärschen in Berlin teil. Bollstein ist damit eine der wenigen öffentlich auftretenden Nazigruppierungen in Kiel bzw. Schleswig-Holstein. Weiterhin wurde in dem Redebeitrag die Notwendigkeit des antifaschistischen Selbstschutzes betont, dessen Grundlage die Organisierung in Bezugsgruppen ist und weitergehend eine gemeinsame mentale und physische Vorbereitung auf mögliche Konfrontationsituationen erfordert.
Anschließend erinnerte das Netzwerk Antirassistische Aktion [Nara] an den neonazistischen Brandanschlag auf die Hafenstraße in Lübeck 1996, bei dem 10 Menschen ermordet und 38 Menschen zum Teil schwer verletzt wurden. Die Neonazis, die das Haus 1996 anzündeten sind bis heute nicht verurteilt wurden, was deutlich unterstreicht, dass wir uns in der antifaschstischen und antirassistischen Arbeit nicht auf staatliche Strukturen verlassen können. Als nächstes betonte die Antifaschistische Jugend Kiel, dass ein Leben ohne Angst vor neonazistischen Angriffen nur jenseits kapitalitsischer Verhältnisse möglich ist. Dabei wurde nachdrücklich die Notwendig der Organisierung im Hier und Jetzt zur Erfüllung der Notwendigkeit der Überwindung der Verhältnisse betont.
Nach der Kundgebung zog die Demonstration weiter durch die belebten Straßen Gaardens. Unter dem vielfachen Einsatz von Pyrotechnik wurden lautstark Parolen gerufen und mit „Nazis raus – Mieten runter“, der zentrale Inhalt der Demonstration pointiert auf die Straße getragen. Gut gelaunt und kämpferisch kam die Demonstration, nach dem sie sich durch den Stadtteil geschlängelt hat, am Wagenplatz Schlagloch an der Werftbahnstraße an, wo mittels Sprechchören dessen Verbleib gefordert wurde. Die Aktivist_innen des Wagenplatzes berichteten in einem Redebeitrag über ihre aktuelle Situation und skizzierten ihre Idee einer Stadt fernab von Verwertungslogik, Luxusappartments und urbaner Monotonie.
Die letzten Meter in der Iltisstraße wurde es noch einmal richtig laut und am Li(e)ber Anders angekommen, wurde die Demonstration mit einer Dachaktion begrüßt, in der unter dem Zünden von Feuerwerk und Pyrotechnik ein großes Transparent vom Haus gelassen wurde. Auf der Abschlusskundgebung direkt vor dem Laden sprach die lokale Ortsgruppe der Roten Hilfe, die sich ebenfalls regelmäßig in den Räumlichkeiten des Li(e)ber Anders trifft, über die politische Hetze, die angestachelt von einer Verbotsforderung durch Innenminister Seehofer, in den letzten Monaten gegen die strömungsübergreifende Solidaritätsorganisation losgetreten wurde. Diese wurde allerdings von einer breiten Solidaritätskampagne beantwortet und die Rote Hilfe konnte stolz verkünden, ihr 10.000 Mitglied begrüßen zu dürfen. Abschließend bekundeten die Bewohner_innen des linken Wohn- und Veranstaltungszentrum Alte Meierei ihre Solidarität mit dem angegriffenen Li(e)ber Anders und machten gleichzeitig deutlich, dass es gerade in Zeiten von Rechtsruck und autoritärer Formierung umso wichtiger ist, selbstverwaltete Strukturen und Projekte mit Leben zu füllen und so die damit verbundenen antifaschistischen, antipatriarchalen und antikapitalitischen Kämpfe zu unterstützen. Daraufhin wurde die Demonstration offiziell für beendet erklärt und die Teilnehmer_innen gingen in den gemütlichen Teil des Abends über, für den die Offene Linksradikale Plattform zu einer Küche für Alle und heißen Getränken in und vor den Li(e)ber Anders geladen hatte.
Resümierend zeigt sich Dora Rempel, Sprecherin des Demo-Vorbereitungsbünisses, sehr zufrieden mit dem Verlauf der Demonstration: „Die große Beteiligung an der Demo, die vielen Solidaritätsbekundungen und die kreativen Aktionen in den letzten Wochen zeigen, dass ein Stadtteil wie Gaarden zusammenhält, dass es auch in Zeiten wie diesen starke solidarische Strukturen gibt, die sich nicht klein kriegen lassen, sondern sich umso entschlossener für eine emanzipatorische Gesellschaft einsetzen, in der alle Menschen gleichberechtigt und ohne Unterdrückung leben können. Das Li(e)ber Anders wird weiter aktiv am Aufbau einer solchen Struktur arbeiten. Weiterhin treffen sich dort regelmäßig u.a. die Offene Linksradikale Plattform und die Rote Hilfe und in naher Zukunft wird es auch wieder eine Arbeitslosen- und Sozialberatung in den Räumlichkeiten geben.“
Die Demonstration war dabei nicht nur eine Reaktion auf den rechten Brandanschlag auf die Räume des Li(e)ber Anders, sondern stellte auch den übergreifenden Rechtsruck und eine sich zuspitzende autoritäre Formierung, deren Auswirkungen in Brandanschlägen wie diesem aber auch durch Verdrängung von Menschen aus ihren Vierteln durch Wohnraumspekulat*innen wie Vonovia erkennbar und erfahrbar werden, in den Mittelpunkt der Kritik. Dass Probleme wie (drohende) Obdachlosigkeit, Armut und Vereinzelung keine individuellen Probleme sind, sondern Ausdrücke des kapitalistischen Systems und seiner Ausbeutungsstrukturen, wurde nicht nur immer wieder klar benannt, sondern auch konkrete Vorschläge gemacht um sich zu organisieren und sich gemeinsam gegen diese Zumutungen zu stellen.
Dazu Dora Rempel weiter: „Wenn wir es schaffen, diese Auseinandersetzungen in unseren Läden real zusammenzuführen und ihnen ein organisatorisches Fundament zu geben, wenn wir uns selbst und allen anderen hier im Viertel klarmachen, dass Antifaschismus vor allem Selbstverteidigung der ausgegrenzten, unterdrückten, ausgebeuteten und erniedrigten Klassen ist und keine besserwisserische bürgerliche Heuchelei, dann bietet dies auch den größtmöglichen Schutz vor zündelnden Nazis. Dann wehren wir uns eines Tages hoffentlich nicht nur als antifaschistische Szene, sondern tatsächlich als solidarischer Stadtteil und das Problem ist ein für allemal gelöst.“