Bis zu 500 Antifaschist_innen beteiligten sich am Samstag, 16. Januar 2016 an verschiedenen Aktivitäten gegen den stationären Aufmarsch von 80 Neonazis auf dem Kantplatz in Neumünster, zu dem wie schon im November letzten Jahres die rassistische Initiative „Neumünster wehrt sich“ von Manfred Riemke in sozialen Netzwerken aufgerufen hatte.
Etwa 350 Menschen, von denen viele aus ganz Schleswig-Holstein und Hamburg angereist waren, hatten sich bereits ab 11.30 Uhr auf dem Postparkplatz am Bahnhof in der Neumünsteraner Innenstadt versammelt, um anschließend mit einer ausdrucksstarken antifaschistischen und antirassistischen Demonstration in die unmittelbare Nähe des Kundgebungsortes der Neonazis in der Böckler-Siedlung zu demonstrieren. In verschiedenen Redebeiträgen der Autonomen Antifa-Koordination Kiel, des Projekt Revolutionäre Perspektive (PRP) Hamburg und der Sozialistischen Deutschen Arbeiter Jugend (SDAJ) wurde zum Widerstand gegen die andauernde rechte Mobilmachung in Teilen der deutschen Gesellschaft aufgerufen und deren Zusammenhang mit der rassistischen EU-Abschottungspolitik sowie der Krisenhatigkeit bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse betont. Der wiederholte Versuch von organisierten Rechten in Neumünster aufzumarschieren, um der bundesweiten Eskalation rassistischer Demonstrationen gegen Asylsuchende auch in Schleswig-Holstein ein öffentlichwirksames Ventil zu geben, müsse durch das entschlossene und gemeinsame Handeln aller Antifaschist_innen unterbunden werden.
Die lautstarke Demo erreichte ihren Endppunkt in der Max-Richter-Straße am Kantplatz gegen 12.45 Uhr, wo bis 13.30 Uhr eine Abschlusskundgebung abgehalten wurde. Weitere 100 Antifaschist_innen beteiligten sich parallel an der Kundgebung des Bündnis gegen Rechts, das nur eine Straßenecke weiter einen weiteren Zugang zum Auftaktkundgebungsort der Neonazis belegte. Die Polizei hatte den Kantplatz schon vor Eintreffen der Gegendemonstrant_innen mit zahlreichen Einsatzkräften, Fahrzeugen und Wasserwerfen hermetisch abgeriegelt, so dass der Kantplatz selbst nur für RassistInnen begehbar war. Noch vor Beginn der eigentlichen Kundgebung von „Neumünster wehrt sich“ ab 13.30 Uhr hatten sich in sämtlichen Seitenstraßen um den Platz herum jedoch hunderte Antifaschist_innen verteilt.
Bereits vor 13 Uhr hatten sich etwa 20 Neonazis vor Ort versammelt, bis zum offiziellen Start der rassistischen Kundgebung wuchs ihre Zahl auf 80 an, darunter neben dem Anmelder Riemke mit dem Neumünsteraner Ratsabgeordneten Mark Proch, dem schon im Vorfeld prominent angekündigten „Gastredner“ Karl Richter aus München und dem Nazikader Thomas Wulff aus Hamburg in organisatorischer Rolle auch drei NPD-Funktionäre. Die Beteiligung von TeilnehmerInnen, die nicht explizit dem neo-faschistischen Spektrum zugeordnet werden können, war diesmal noch geringer als im November.
Verschiedenen Berichten zufolge gelang es Antifaschist_innen immer wieder, die Anreise von kleineren RassistInnengruppen zu behindern, so war es einigen nur unter Polizeischutz möglich, die Kundgebung überhaupt zu erreichen. Andere sollen ihr Ziel garnicht erreicht haben. Auch Fahrzeuge von anreisenden Rechten sollen dabei in Mitleidenschaft gezogen worden sein. Bereits am Morgen sind am lokalen Nazi-Treffpunkt „Titanic“ in der Wippendorferstraße Schäden an der Fensterfront zu beobachten gewesen. Während die Kundgebung der RassistInnen lief, gelang es vielen Gegendemonstrant_innen trotz der weiträumigen Polizeiabsperrungen, ihren Protest gegen die rassistische Hetze auch in Sicht- und Hörweite des Aufmarsches kundzutun und ihn von jeglicher Öffentlichkeit abzuschotten. Die rechten Redebeiträge wurden von Pfeifkonzerten begleitet.
Ab etwa 15.30 Uhr begann „Neumünster wehrt sich“ mit der Auflösung ihrer Kundgebung. Um die TeilnehmerInnen die Abreise überhaupt erst zu ermöglichen, wurden diese grüppchenweise mit großer personeller und logistischer Unterstützung der Polizei in einem Kleinbus vom Platz eskortiert. Dieser wurde mehrfach blockiert und mit Wurfgeschossen angegriffen. Nichtsdestotrotz offenbarte sich gerade in der Abreisesituation ein zentralen Manko der antifaschistischen Gegenaktionen an diesem Tage: Durch das Fehlen einer Infostruktur haben viele Antifaschist_innen erst spät von dem bereits laufenden Abtransport erfahren und postierten sich an falschen Abreisewegen. Auch gab es nach Abbau des Demo-Lautsprecherwagens und Auflösung der Bündnis-Kundgebung keinen zentralen Anlauf- und Infopunkt mehr. Dass die antifaschistische Mobilisierung ein erhebliches Potential geschaffen hatte, war den ganzen Tag in den Straßen um den Kantplatz sowie auf der An-und Abreise spürbar. Mit Hilfe eines besseren Informationsflusses hätte dieses auch trotz der funktionierenden Polizeistrategie zu mehr Handlungsräumen gelangen können. In Anbetracht der Androhungg Thomas Wulffs, nun monatlich in Neumünster aufmarschieren zu wollen, wird es eine Aufgabe aller Antifaschist_innen im Norden sein, bei kommenden Aktionen entsprechende Kapazitäten zu schaffen, um die Infrastruktur vor Ort zu verbessern. Auch die Koordination zwischen den verschiedenen agierenden antifaschistischen Spektren kann perfektioniert werden.
Es kam über den insgesamt Tag zu drei Festnahmen: Den Genoss_innen wird einmal Sachbeschädigung bzw. zweimal Landfriedenbruch vorgeworfen. Mindestens zwei antifaschistische Demonstrant_innen wurden durch Polizeigewalt verletzt und mussten durch Sanitäter_innen behandelt werden
Insgesamt können auch die Aktionen gegen den zweiten Versuch von Neonazis, in Neumünster rassistischen Bürgerprotest zu inszenieren, als erfolgreich bewertet werden: Die antifaschistischen Mobilisierungen konnten mit bis zu 500 nochmals einige Menschen mehr als im November zu den Gegenprotesten mobilisieren, während die TeilnhemerInnenzahl und ohnehin schon sporadische Heterogenität bei „Neumünster wehrt sich“ tendeziell abnahm. Insbesondere durch die Antifa-Demo am Mittag konnten die Inhalte der Gegenmobilisierung prominent platziert werden, während die Neonazis in einem wenig belebten Wohnviertel fernab irgendeiner relevanten Öffentlichkeit ihr Dasein hinter massiven Polizeiabsperrungen fristen mussten. Durch die Anwesenheit vieler entschlossener Antifaschist_innen im Umfeld der Kundgebung war die Sicherheit für Gegendemonstrant_innen weitestgehend vorhanden, während erkennbare Neonazis sich nur mit Polizeischutz bewegen konnten. All dies sind gute Grundvorraussetzungen, um auch im weiteren Verlauf des Jahres dafür zu sorgen, dass der bundesweite Rechtsruck auf schleswig-holsteinischen Straßen auch zukünftig geringfügig bleibt.
Dass „Neumünster wehrt sich“ und ihr Klientel sich nicht entblödeten, in den Abendstunden das mittlerweile längst von verschiedener Seite dementierte Gerücht zu verbreiten, Antifaschist_innen hätten am Neumünsteraner Bahnhof einen ihrer Anhänger erschlagen, unterstreicht abermals ihre Irrationlität und Realitätsferne, die sich auch in ihrer nationalistischen und rassistischen Hetze ausdrückt. Die Dynamik und Gewaltphantasien, die die offensichtliche Falschmeldung binnen weniger Stunden im rechten Sumpf der sozialen Netzwerken entfachte, offenbarte jedoch abermals das bedrohliche Potential, das ihr innewohnt.
Alle Antifaschist_innen im weiteren Einzugsgebiet von Neumünster sind dazu aufgerufen, die dortigen Entwicklungen auch in den nächsten Wochen und Monaten im Auge zu behalten und auch auf kommende Herausforderungen so schnell und entschlossen zu reagieren, wie es am Samstag erfreulicherweise der Fall gewesen ist.
Medienberichte:
Blick nach Rechts | NDR | SHZ I | SHZ II | Kieler Nachrichten I | Kieler Nachrichten II | Polizeipresse | Polizeipresse II
Fotos:
Sonar-Archiv | Fabian Schumann | Wut auf der Straße – Protest in Bildern