Erklärung des netzwerk antirassistische aktion [nara] kiel zur Versorgungssituation geflüchteter Menschen in Kiel und Ultimatum an die Stadt Kiel:
Was bisher geschah:
Seit mehr als zwei Wochen versorgen wir als unabhängiger Zusammenschluss aus verschiedenen Gruppierungen geflüchtete Menschen, die in Kiel ankommen und meist auf dem Transitweg Richtung Schweden sind. Ein Schwerpunkt unserer Arbeit lag dabei auf der Verpflegung mit Nahrungsmitteln, Getränken und zubereitetem Essen. Dazu wollen wir jetzt Stellung beziehen.
Bisher umfassen unsere Tätigkeiten das komplette Spektrum von Spendenaufruf starten, Spenden annehmen und koordinieren, Essen zubereiten und dem Transport der Nahrungsmittel an die entsprechenden Stellen. Diese sind tagsüber der Bahnhof und das Ostseekai–Terminal und am Abend sowie am frühen Morgen die Markthalle. Eine weitere Aufgabe stellt die Koordination von UnterstützerInnen dar. Viele engagierte Menschen sind seit Wochen im Einsatz um eine humanitäre Minimalversorgung in Kiel sicherzustellen, die von der Stadt nicht geleistet wurde und wird.
Als positives Fazit der Arbeit in den letzten Wochen sehen wir die Erfahrung, dass es möglich war auch ohne staatliche Unterstützung, dafür aber mit unglaublich vielen selbstorganisierten Menschen, eine Versorgungsstruktur aufrecht zu erhalten. Hier gilt es auf jeden Fall einen Dank an alle Menschen, die in den letzten Wochen und Tagen ihre Vorräte geplündert, Kofferräume voll geladen, Nachtschichten geschoben und ihre Autos zur Verfügung gestellt, Gemüse geschnippelt und in der Küche unterstützt haben, auszusprechen!!
Was bisher nicht geschah:
Trotz vielseitiger Aufforderungen unsererseits an die Stadt mangelt es nach wie vor an einer ausreichenden Infrastruktur um alle Bereiche der Versorgung abzudecken. Es fehlt eine ausreichende Verpflegung, eine medizinische Versorgung sowie eine menschenwürdige Unterbringung. Schließlich ist es alles andere als vertretbar, mehr als 300 Menschen, die zum Großteil seit Wochen unterwegs sind, in einer großen Halle ohne ausreichende Hygiene oder einen Hauch von Privatsphäre unterzubringen.
Vor zwei Wochen wäre die Situation am Bahnhof ohne die Hilfe engagierter UnterstützerInnen völlig aus dem Ruder gelaufen, hätten nicht so viele Menschen Decken, Kleidung und Verpflegung gebracht um den Geflüchteten, die am Bahnhof nächtigen mussten, zu helfen.
Immer wieder erleben wir ähnliche Situationen in denen von städtischer Hilfe nichts zu sehen ist. Es passiert eher das Gegenteil: Uns werden Steine in den Weg gelegt, die unsere Arbeit erschweren oder zum Teil sogar unmöglich machen; am Bahnhof wird uns untersagt Essen und Getränke an die Geflüchteten weiterzugeben, da diese doch „vollgefressen aus Hamburg ankommen“, so die Aussage der Bahnhofangestellten Frau Wienke. In der Markthalle wird uns jeglicher Zutritt verwehrt. Am Stena-Terminal sollen wir lediglich als GeldgeberInnen fungieren, wenn die Transitflüchtlinge kein Geld für die Weiterreise haben; das Austeilen von Essen und Verpflegung wurde uns untersagt. BehördenvertreterInnen kommen unangemeldet an unseren Orten (wie z.B. der Küche) vorbei…
Zudem gestaltet sich die Kommunikation sehr schwierig, da die Stadt auf der einen Seite von uns Informationen einfordert (z.B. wie viele Menschen mit den Zügen in Kiel ankommen), auf der anderen Seite jedoch nicht bereit ist, für unsere Arbeit relevante Informationen offen zu legen (z.B. zu vorhandenen Schlafplätzen für Ankommende in der Markthalle).
Weiterhin können wir seitens der Stadt keinerlei konstruktive „Zusammenarbeit“ ausmachen. Stattdessen ist der aktuelle Kurs der Stadt, uns als unabhängiger Zusammenschluss aus den Strukturen zu drängen, aber doch für manche Bereiche wie zum Beispiel die Essensversorgung zu instrumentalisieren.
Uns reicht es:
Wir fordern jetzt die Stadt Kiel auf endlich auch in Bezug auf die Nahrungsmittelversorgung tätig zu werden. Wir sehen es für uns als eine politische Entscheidung aus der Nahrungsmittelversorgung auszusteigen. Wir werden uns nicht mehr von der Stadt für ihre Willkommenskultur instrumentalisieren lassen, während weiterhin Menschen in vermeintlich sichere Herkunftsländer abgeschoben und Asylgesetze verschärft werden.
Es kann nicht sein, dass sich die Verantwortlichen der Stadt im Blitzlichtgewitter der Medien feiern lassen, sie es aber nach Wochen nicht hinbekommen eine menschenwürdige Versorgung sicherzustellen, die mehr ist als eine Banane und eine Suppe am Tag.
Dies ist nach unserer Einschätzung der Lage eine immer wiederkehrende Linie der Stadt, sich vor Verantwortlichkeiten zu drücken. Wie schon bei der Bereitstellung der Unterkunft, ist die Stadt erst nach tagelangem Missständen und nach massivem Protest tätig geworden, eine Unterkunft für 300 Menschen herzurichten.
Dies ist für uns nicht hinnehmbar.
Wir sehen die Stadt Kiel als bedeutender Rüstungsstandort auch maßgeblich als Mitverursacher von Fluchtgründen. Wer Milliarden am Verkauf von Kriegsschiffen in Krisenregionen verdient, hat nun auch die Verantwortung zu tragen, die Menschen, die aus dem verursachtem Elend flüchten mussten, menschenwürdig zu versorgen. Alles andere ist nur eine weitere Schweinerei, für die wir nicht bereit sind, weiter aufzukommen.
Weiterhin sehen wir es als politisches Kalkül, dass europaweit von einer angeblichen Überforderung schwadroniert wird, obwohl davon nicht die Rede sein kann, wenn man bedenkt, wie viele Menschen global auf der Flucht sind. Wir sehen die Situation als gewollte Untätigkeit von städtischer Seite, unter anderem, um das Märchen einer behördlichen Überforderung zu konstruieren sowie die aktuellen Debatten bezüglich Grenzschließungen und „positiven Anreize“ zu befeuern. Auch dies ist eine Linie, die wir als antirassistisches Netzwerk aus unserem politischem Selbstverständnis heraus ablehnen.
Wir sehen es als definitive Aufgabe der Stadt, diese Versorgung zu leisten. Das, was wir bisher geleistet haben, war eine Ausnahmesituation, die wir gemanagt haben, wenn man es so nennen will als Feuerwehr der Stadt.
Nun, nach zwei Wochen sagen wir: Es reicht! Werdet aktiv und macht EUREN Job!
Wer Steuergelder von ortsansässigen Rüstungsbetrieben einstreicht, sollte nun auch in der Lage sein, Verpflegung und Infrastruktur zu stellen. Wir fordern die Stadt auf, sich nicht länger darauf auszuruhen, dass sowas von linken Strukturen übernommen wird. Das ist nicht unsere Aufgabe und auch nicht unsere Motivation.
Deshalb fordern wir von der Stadt:
Kommt an den Start mit eurer Infrastruktur!
In einer Stadt, in der es durch zahlreiche Großkantinen möglich ist in jeder Behörde, Institution und sämtlichen Bildungseinrichtungen eine Versorgung sicherzustellen, wo auf jedem Festival oder Stadtfest problemlos tausende Menschen versorgt werden, kann es ja wohl nicht sein, dass es nun nicht möglich ist, 300 Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen.
Wir fordern daher die Stadt Kiel mit Nachdruck auf, die Essensversorgung ab Donnerstag, 1.10.2015 für alle in Kiel ankommenden geflüchteten Menschen sicherzustellen. Ansonsten werden wir dafür sorgen, dass das Essen aus den Rathaus-, Landtags- und HDW- Kantinen gerecht an alle verteilt wird.
Zeigt, was ihr drauf habt wenns drauf ankommt!
Wir fragen uns in den letzten Wochen ernsthaft immer wieder, ob es beispielsweise im Falle einer Hochwasserkatastrophe ebenso nicht möglich wäre, 300 KielerInnen zu versorgen…
Zahlt gefälligst die Tickets für die Weiterreise der Geflüchteten, so wie andere Städte (z.B. Rostock) das auch machen und wie es auch in Kiel am 10.09.2015 bereits passiert ist. Oder sorgt für eine kostenlose Weiterreise!
Denn auch hier sehen wir uns nicht in der Verantwortung als alleinige GeldgeberInnen zu agieren und nebenbei dem Jahresumsatz des Unternehmens Stena-Line zu einem neuen Rekord zu verhelfen.
An alle anderen Menschen:
In runden Tischen und persönlichen Gesprächen mit VertreterInnen der Stadt wurde von städtischer Seite immer wieder betont, dass sie keine Versorgung über den Tag leisten werden, sondern dass das Aufgaben „der Zivilbevölkerung“ sei. Auch wenn wir das nicht so sehen, geben wir mit dieser Erklärung diese Aussage an euch LeserInnen weiter.
Konkret bedeutet das:
– versorgt Menschen mit Essen und Trinken: Dafür könnt ihr zum Ostseekai-Terminal oder zur Markthalle kommen
– stellt euch darauf ein, dass die Essensabgabe schwieriger wird, als gedacht. Lange Diskussionen mit Wachpersonal an den Unterkünften, die Einsicht, dass es vielleicht zu wenig Essen und Trinken ist und auch manchmal das Aushaltenmüssen dieser Einsichten.
Manchmal werdet ihr etwas suchen müssen, um die richtige Stelle zu finden, wo ihr euer Essen und Trinken loswerden könnt. Vielleicht kann euch dabei ein Anruf auf unserem Orgatelefon oder ein Blick in unseren Twitter–Account helfen: 01578/ 6454687 (erreichbar ab Donnerstag, 1.10.2015)
– gebt der Stadt Feedback: Z.B. unter den Nummern der Stadt 0431 / 901 3333 oder auch beim Telefon für besorgte
BürgerInnen 0431 / 901 3031, die beide extra dafür eingerichtet wurden, könnt ihr eure Erfahrungen an die richtigen AdressatInnen bringen.
– bleibt solidarisch mit den Geflüchteten und widerständig: die Stadt hat gezeigt, dass sie nicht handlungsfähig ist, wenn es drauf ankommt.
Es liegt nun an uns allen, autonome Strukturen zu schaffen, damit wir so ein Häck-Mäck zukünftig links liegen lassen können. Also bleibt bei allen eventuellen Frustrationen positiv!
nara – Netzwerk antirassistische Aktion Kiel am 29.9.2015