Liebe Genoss_innen, liebe Kieler_innen!
Wir demonstrieren heute in Gedenken an Bahide Arslan, Yeliz Arslan und Ayse Yilmaz, die 1992 dem Möllner Mordanschlag von Neonazis zum Opfer fielen und an die Todesopfer der neonazistischen Terrorbande NSU Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat.
Die nationalsozialistischen Vernichtungsideologie bürgt immer die Gefahr in sich, dass sich ihre erklärten AnhängerInnen, derer es hierzulande auch heute leider noch immer zu viele gibt, Häuser anzünden oder sich bewaffnen, um rassistische Morde zu begehen, wie es in jüngerer Geschichte nicht nur die herausragend grausamen Beispiele Mölln und NSU gezeigt haben. Das ist zwar eine unerträgliche, aber leider auch keine neue Erkenntnis. Sie ist nicht weniger als die zentrale Begründung dafür, weshalb wir als Antifaschist_innen nicht erst seit gestern daran arbeiten, die braunen Sümpfe, aus denen sich die Nazi-MörderInnen rekrutieren, trocken zu legen, ihre Protagonist_innen öffentlich zu machen und anzugreifen und die Propagierung ihrer menschenfeindlichen Ideologie wo immer es geht zu sabotieren. Eine Selbstverständlichkeit im Sinne der Menschlichkeit, für die wir leider nichtsdestotrotz immer wieder mit starkem Gegenwind aus Staat und Gesellschaft zu kämpfen haben. Sei es durch direkte Repression, z.B. indem Antifaschist_innen für ihr Engagement polizeilichen Hausdurchsuchen ausgesetzt sind, wie es vorgestern mal wieder drei Antifas in Hamburg und Buchholz erleiden mussten bzw. indem sie zu 2 1/2 Jahren Gefängnisstrafe verurteilt werden, wie es unserem Nürnberger Genossen Deniz vorige Woche widerfahren ist; oder aber indirekt durch eine gezielt entwickelte Ideologie, die unser Handeln als sogenannten „Extremismus“ denunziert und politisch ausgrenzen will.
Die Keimzelle dieser Extremismusdoktrin, der ebenso stumpfen wie falschen Gleichsetzung von linker und rechter Politik und damit vor allem der Undenkbarmachung emanzipatorischer Gesellschaftsperspektiven jenseits der bürgerlichen Ordnung dienlich, ist ein staatlicher Akteur, der auf der heutigen Demo zu Recht schon mehrfach Thema war: Der Inlandsgeheimdienst Verfassungsschutz, der vor allem zu einem Zweck gegründet wurde: Dem Kampf gegen Links im Kontext des Kalten Kriegs gegen den Realsozialismus. Unter maßgeblicher Mitwirkung von im praktischen Antikommunismus erfahrenen Altnazis aufgebaut, gehörte zum Repertoire des VS neben der genannten Ideologieproduktion schon immer – sei es in der Vorbereitung des KPD-Verbots in den 1950ern, der Berufsverbote 20 Jahre später oder der 129(a)-Verfahren gegen radikale Linke in jüngerer Vergangenheit – die Bespitzelung und Denunziation linker Aktivist_innen einerseits, aber auch der gezielte Aufbau und die Unterstützung von rechten Strukturen andererseits. Was in den 1970ern nachweislich mit dem geheimen Aufbau von neofaschistischen Paramilitärs für den Fall einer militärischen Blockkonfrontation von den westeuropäischen Geheimdiensten begonnen wurde und damals zumindest noch im weitesten Sinne einer aus ihrem Blickwinkel irgendwie realistischen Einschätzung der weltpolitischen Lage entsprach, setzte sich in dem strukturellen Denken der bundesdeutschen Geheimdienste auch nach dem Wegfall der vermeintlichen realsozialistischen Bedrohung als Strategie fort. In einigen Regionen, wie etwa Thüringen, wurde in den 1990ern tatkräftig der Aufbau jener Neonazistrukturen mitbetrieben, der auch die NSU-MörderInnen entsprungen sind. Diese bis heute andauernde tiefe Verstrickung insbesondere des VS in das neonazistische Milieu dürfte spätestens mit dem 2003 an der Durchsetzung mit V-Leuten gescheiterten NPD-Verbotsverfahren auch dem/der Letzten klar geworden sein.
Kurzum: Das was infolge der NSU-Selbstenttarnung an Verbindungen, Mitwissen, Verschleierungen und Unterstützungsleistungen des VS bezüglich des NSU an die Öffentlichkeit gelangt ist und noch immer gelangt, ist zwar heftig, aber widerspricht nicht dem Bild, welches wir von den Geheimdienstbehörden dieses Landes haben.
Im Gegenteil plädieren wir als antifaschistische Linke schon lange dafür, nicht nur aus Eigenschutz jegliche Zusammenarbeit mit dem VS zu unterlassen, sondern auch für den Ausschluss von staatlich inszenierten Programmen aus antifaschistischen Strukturen, an denen seine Repressionsorgane, insbesondere der VS, beteiligt sind. In Schleswig Holstein gilt das für das Beratungsnetzwerk gegen Rechts. Natürlich sprechen wir außerdem dem sich zunehmend und leider durchaus erfolgreich in Bildungsarbeit, u.a. auch zur rechten Szene, versuchenden VS aufgrund von Befangenheit jegliche Kompetenz ab und lehnen ab, seine Veröffentlichungen als aussagekräftige Quelle zu nutzen. Wir fordern und wollen nichts vom Verfassungsschutz und allen anderen Geheimdiensten, außer sie nicht nur wegen ihrer Mittäter_innenschaft an Nazi-Terror ersatzlos zerschlagen und ihre Mitarbeiter_innen zur Rechenschaft ziehen!
Doch nicht nur das mörderische Potenzial von Neonazis und der nazi-kompatible und anti-linke Standpunkt des VS bestätigt die Geschichte regelmäßig neu, vor allem – und das wiegt am Schwersten – spricht nur wenig eine so deutliche Sprache über den rassistischen Normalzustand dieser Gesellschaft, wie die Morde von Mölln ’92 und des NSU es tun.
Warum hat die Welle der rassistischen Gewalt Anfang der 1990er nicht dazu geführt, dass sich große Teile der Gesellschaft mit den Betroffenen nachhaltig solidarisieren, d.h. auch den Tätern und Schreibtischtätern den Kampf ansagen, sondern im Gegenteil, dass in ihrer Folge 1993 nahezu widerspruchslos das Grundrecht auf Asyl von einer überwiegenden Bundestagsmehrheit eingestampft wurde? Warum konnten Neonazis über zehn Jahre lang und unter Mitwissen staatlicher Behörden mordend durchs Land ziehen, ohne dass bei irgendwem der bleichgesichtigen Mehrheitsgesellschaft, inklusive der antifaschistischen Linken, auch nur Zweifel aufkam? Warum gilt es als völlig normal, dass die Polizei ganz selbstverständlich einen Zusammenhang mit organisierter Kriminalität herstellt, gegen das Umfeld der Betroffenen selbst ermittelt und ihrer SOKO den Namen Bosporus gibt, wenn Migrant_innen umgebracht werden? Warum hatte sich medial der Begriff „Döner-Morde“ ohne wahrnehmbaren Widerspruch etabliert? Warum wird noch auf der offiziellen Gedenkfeier für die NSU-Opfer von „Fremdenfeindlichkeit“ gesprochen – über Menschen, die seit Jahrzehnten hier zuhause, also keinesfalls „fremd“ sein sollten? Warum demonstrierten am vergangenen Wochenende unter den 800 Teilnehmer_innen kaum Möllner Bürger_innen gemeinsam mit der Familie Arslan in Gedenken an ihre Opfer?
Weil einem Großteil der bleichgesichtigen Mehrheitsgesellschaft in Deutschland es garnicht auffällt, wenn Menschen, die für sie als nicht-dazugehörig gelten, alltäglichem Rassismus ausgesetzt und sogar umgebracht werden, es ihnen egal ist oder es sogar befürworten. Weil es ungeheuer praktisch ist, völlig ohne eigenes Zutun im alltäglichen kapitalistischen Konkurrenzkampf aller gegen alle wenigstens gegenüber den ausgemachten „Fremden“ privilegiert zu sein. Weil mit rassistischen Ressentiments nur zu gut Politik gemacht werden kann, sei es um die Abschottung der tödlichen europäischen Außengrenzen zu legitimieren, sei es, um die Ursache ökonomischer Krisen auf „faule Südeuropäer_innen“ abzuwälzen. Weil ein Mensch mit dunkler Haar- oder Hautfarbe den Bullen nicht nur in ihrem Denken, sondern sogar per Einsatzbefehl als der Kriminalität verdächtige Person gilt. Weil die Stimme von betroffenen rassistischer Gewalt in den seltensten Fällen gehört wird und gehört werden will. Weil inmitten dieser Gesellschaft, von Sarazzin bis Innenminister Friedrich, bis zum Erbrechen Debatten über die Bedrohung des Abendlandes durch vermeintliche Fremde angezettelt werden, bis auch die Letzte Stimme der menschlichen Vernunft übertönt ist. Und weil das konsequente Aufbegehren gegen Neonazis und andere Rassist _innen, d.h. die Störung des rassistischen Normalzustandes, hierzulande für viele als das eigentliche Übel gilt.
Auch wenn auch wir als antifaschistische Linke von diesem Zustand leider und logischerweise nicht unbeeinflusst bleiben, was unser Versagen beim Erkennen der NSU-Morde uns mal wieder ganz drastisch vor Augen geführt hat, sind wir uns zumindest darüber bewusst: Das Problem heißt Rassismus und Rassismus tötet!
Praktische Solidarität mit den Opfern rassistischer Gewalt muss zu allererst bedeuten, den Betroffenen zuzuhören und mit ihnen den Selbstschutz organisieren, muss bedeuten, immer und überall rassistische Argumentationen als solche zu entlarven und anzugreifen, muss die Propagierung von offenem Rassismus nicht nur von Neonazis aktiv unterbinden, muss das Zusammenspiel von Rassismus und kapitalistischer Gesellschaftsordnung offenlegen und darauf abzielen, das große Ganze hin zu einer wahrlich solidarischen und allgemeingültig menschenwürdigen Gesellschaft zu verändern und vor allem: Muss die Grenzen einreißen, die Menschen in verschiedene und ungleich privilegierte soziale Gruppen spaltet, die ganz realen um Europa und überall sonst, vor allem aber auch in unseren Köpfen.
Niemals vergessen die Opfer des Rassismus: Gedenken, solidarisieren, kämpfen!
Neonazistrukturen und ihre staatlichen Unterstützungsbehörden zerschlagen!