Es sind Namen, wie sie in unseren Hausfluren an den Briefkästen stehen könnten: Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Yunus Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat. Diese neun Menschen wurden von einer Gruppe Neonazis ermordet, weil diese sie für „nicht deutsch genug“ hielten. Ihren Familien und Freund_innen gilt unser Mitgefühl, sie haben Vater, Bruder, Mann oder Freund verloren, weil es in Deutschland immer noch Menschen gibt, die andere Menschen angreifen und sogar töten, weil irgendwann mal einer ihrer Vorfahren nicht in Deutschland geboren ist. Auf dem Rücken dieser Mordopfer wird seit Jahren eine Posse ausgetragen, die an Widerlichkeit und Menschenverachtung kaum zu überbieten ist und die in den letzten Tagen ihren traurigen Höhepunkt erreichte. Die Hauptakteur_innen dieses ekelhaften Schauspiels sind die üblichen Verdächtigen: Polizei, Verfassungsschutz, die rechts-konservative Familienministerin Kristina Schröder, Mainstream-Medien und Zivilgesellschaft.
Die von 2000 bis 2006 andauernde Mordserie an neun Menschen sorgte in den medialen Schlagzeilen unter dem Stichwort „Döner-Morde“ für Aufsehen. Die Morde wurden auf Grundlage der Aussagen von Ermittlern, Kriminologen und der eigens eingerichteten „Soko Bosporus“ in Verbindung mit organisierter Kriminalität, Drogen, Schutzgeld und Geldwäsche gebracht. Was daran unerträglicher ist, die begriffliche Gleichstellung von Menschen mit türkischem und griechischem Migrationshintergrund und dem türkischen Grillfleisch-Gericht oder die aufgrund ihres Migrationshintergrund reflexartig unterstellte Verbindung der Ermordeten mit als Mordmotiv dienlichen Straftaten, ist jeder_jedem selbst überlassen.
Der Begriff „Dönermorde“ nimmt den Toten nicht nur Namen und Individualität, sondern reduziert sie in rassistischer Manier auf ein Klischee, das in der deutschen Mehrheitsbevölkerung weit verbreitet ist und gleichzeitig auf den tatsächlichen Hintergrund der Mordserie verweist.
Bei der Suche nach den Mordmotiven und dem daraus entstandenen gesellschaftlichen Diskurs wurde die eigentlich allgemein bekannte Tatsache, dass es in Deutschland Menschen gibt, die aus einer rassistischen Motivation heraus andere Menschen töten wollen, so lange wie möglich geflissentlich ignoriert. Die Spekulation über mögliche Mafiahintergründe der neun Ermordeten offenbart vor allem, dass der bestimmende Diskurs in Deutschland weiterhin nur in der Lage ist, Deutsche als Opfer finsterer Machenschaften zu begreifen und nicht als Täter_innen und Profiteur_innen rassistischer Ausgrenzung.
Dass seit der Wiedervereinigung mindestens 182 Menschen durch die Folgen rechter Gewalt ums Leben gekommen sind und es deutschlandweit täglich zu rassistisch motivierten Übergriffen kommt, wird von Mainstream-Medien, Politik und Zivilgesellschaft weitestgehend ignoriert, verdrängt und totgeschwiegen. Wenn jetzt entsetzte Politiker_innen und Medien die heuchlerische oder tatsächlich nur hilflose Frage nach dem „Warum?“ und „Wie das alles passieren konnte?“ stellen, ist Kotzen wohl noch die harmloseste aller naheliegenden Reaktionen.
Nur durch einen Zufall kamen die Ermittler_innen auf die Spur der Täter_innen, die nach einem Banküberfall Anfang November tot in ihrem ausgebrannten Wohnmobil gefunden wurden. Der Rattenschwanz an Enthüllungen, der folgte, ist kaum weniger schockierend als die Taten an sich, was alles in allem bezeichnend ist für deutsche Zustände.
Die beteiligten Neonazis waren in den 1990ern Teil einer Gruppe namens „Thüringer Heimatschutz“, einer Gruppe, die zeitweilig von einem V-Mann des Verfassungsschutzes geleitet wurde. Es wird auch von staatlichen Stellen nicht ausgeschlossen, dass der Verfassungsschutz ihnen Ende des letzten Jahrtausends eine neue Identität besorgte, mit der sie abtauchen konnten – zumindest verloren die staatlichen Repressionsorgane die Mörder_innen komplett vom Schirm. Bei einem der Morde saß ein Beamter des Verfassungsschutzes im Raum, in dem der Mord stattfand und weigerte sich im Anschluss, als Zeuge auszusagen. Ebenjener Verfassungsschützer hat einen Hintergrund in der Neonaziszene und eigenhändig kopierte Nazipamphlete auf seinem Computer.
Bekanntermaßen ist hier die Rede vom gleichen Verfassungsschutz, dessen pseudowissenschaftliches Umfeld rechts und links gleichsetzt. An der Spitze der Heerscharen der Reaktion, für die Verbreitung der vom Verfassungsschutz erfundenen Extremismustheorie, die konstitutiv für das nationale Selbstverständnis des ach so geläuterten Deutschlands ist, steht die selbsternannte Expertin für Extremismus und Integration, Kristina Schröder. Obwohl diese erst seit zwei Jahren das Amt der Familienministerin bekleidet, hat sie bereits eine Schneise der Dummheit geschlagen, die ihresgleichen sucht. Angetrieben von ihrem antikommunistischen Wahn strich Schröder antifaschistischen Projekten die Fördermittel, weil sich diese nicht von „Linksextremisten“ distanzierten, finanzierte gleichzeitig der Jungen Union Köln eine Sauftour nach Berlin unter dem Titel „Fahrt gegen Linksextremismus“. So setzt Schröder mit ihrem ideologisch verbrämten Bauchgefühl, etwas gegen Links tun zu müssen, die Gesundheit und das Leben von Menschen aufs Spiel. Denn gerade in den neuen Bundesländern herrscht in einigen Regionen eine rechte Hegemonie vor, die es um jeden Preis und mit allen notwendigen Mitteln zu brechen gilt, wenn das Ziel ist, solche Gewalttaten zu verhindern.
Der gleiche Verfassungsschutz, der die Extremismusdoktrin offensiv verbreitet, schwankt irgendwo zwischen Weggucken und eigener Beteiligung an der Ermordung von neun Menschen. Die Konsequenz kann aus einer antifaschistischen Perspektive daher eigentlich nur die sofortige Auflösung der Bundes- und Landesämter für Verfassungsschutz sein. Unsere Konsequenz kann nur sein, jede Form der Zusammenarbeit mit dem VS noch entschiedener als bisher zu verweigern. An Programmen gegen Rechts, an denen VS oder Innenministerien beteiligt sind, werden wir uns in keiner Weise beteiligen, ist die Aufgabe des Verfassungsschutzes doch offensichtlich und bekanntermaßen eine völlig andere als die der Abwehr rassistischer und antisemitischer Bestrebungen, sondern die Stabilisierung der bestehenden Verhältnisse.
Unter diesem Gesichtspunkt muss auch die Motivation für die massive Durchsetzung der Neonaziszene von VS-Spitzeln beurteilt werden, die die politische Führung und Behörden der Bundesrepublik nach wie vor der Zerschlagung neonazistischer Organisationen vorziehen, wie das 2003 desaströs gescheiterte NPD-Verbotsverfahren vor Augen geführt hat. Die Annahme, dass es staatlicherseits stattdessen nach wie vor eher ein Interesse an der Kontrolle und Beeinflussung der Neonaziszene gibt, ist scheinbar aktueller als in Anbetracht der veränderten weltpolitischen Machtkonstellationen nach 1990 angenommen werden konnte. Auch wenn diese nach dem Zusammenbruch der osteuropäischen realsozialistischen Staaten heute unbestreitbar andere sind, ruft die knietiefe Verwicklung des VS in den deutschen Neonazismus bis hin zu seinen terroristischen Ausformungen unweigerlich Assoziationen mit der westeuropäischen Gladio-Affäre hervor. Im Zuge derer wurden während des Kalten Krieges von zahlreichen westlichen Geheimdiensten, darunter auch der BND, unter Einbindung rechter Gruppierungen paramilitärische Strukturen gegen eine mögliche Erweiterung der sowjetischen Einflusssphäre in Europa aufgebaut.
Mit aufgesetzter Betroffenheitsmiene mischen sich, nach Bekanntwerden des neonazistischen Hintergrunds der Morde, bundesdeutsche Spitzenpolitiker_innen ins Geschehen ein, fordern ein Mehr an Überwachung und bejammern die Schande für Deutschland. Dabei ignorieren sie völlig, ob unbewusst oder nicht, dass ein staatliches Überwachungsorgan eine nicht unwesentliche Rolle in dem Fall gespielt hat. Vor allem ignorieren sie völlig, dass die Taten nicht Deutschland geschadet haben, sondern den betroffenen Menschen. Doch sogar nach rassistischen Morden scheint es für die staatliche Führungsriege nichts wichtigeres zu geben, als Deutschland. Dasselbe Deutschland, in dessen Namen die Menschen ermordet wurden, schickt den deutschen Außenminister zu Vertretern der in Deutschland lebenden Türk_innen, obwohl Kriminalität und das Versagen von Behörden eigentlich ureigenstes Metier des Innenministers sind. Hier offenbart sich erneut eine Denke, der es scheinbar unmöglich ist, anzuerkennen, dass hier in Deutschland neun Menschen aus rassistischen Gründen ermordet wurden. Menschen, die hier leben, die aber für die deutsche Imagepflege im Ausland posthum noch ein weiteres Mal ausgegrenzt werden.
Die Verstrickungen des VS und das Nichteinschreiten von Polizei, das Verharmlosen von rechten Gewalttaten haben eins mal wieder deutlich gezeigt: Organe des bürgerlichen Staates können oder wollen den Schutz aller Menschen nicht gewährleisten, die Organisation antifaschistischen, auch militanten, Selbstschutzes ist und bleibt notwendig.
Solidarität mit allen Betroffenen rechter Gewalt! Naziterror stoppen!
Für die Auflösung des Verfassungsschutzes! Gegen deutsche Imagepolitur, für ein gleichberechtigtes Zusammenleben aller Menschen!