Revolution statt Deutschland! (Gruppe Zunder)

Warum der 9. November kein „Schicksalstag der Deutschen“ ist und welche Erkenntnisse wir dennoch aus ihm ziehen können

Der 9. November wird von der herrschenden Geschichtsschreibung der BRD als „Schicksalstag der Deutschen“ dargestellt, an dem sich die „wechselhafte Geschichte Deutschlands“ mit seinen Höhen und Tiefen widerspiegele. Natürlich haben wir es hier mit einer konstruierten Legende von einer Nation zu tun, die aus ihren Fehlern wie aus vermeintlichen Errungenschaften gelernt haben will. Aus dieser Konstruktion leitet die deutsche Politik ein angeblich „gesundes“ und „neues“ nationales Selbstbewusstsein ab, Weltmachtanspruch inklusive. Dass diese nicht die ganze Wahrheit sein kann, wird spätestens darin offensichtlich, dass drei der vier beschriebenen historischen Ereignisse vom 9. November nahezu zufällig am gleichen Tag stattfanden. Vor allem aber waren die beteiligten Akteure keineswegs „die Deutschen“, sondern ganz unterschiedliche Teile der in Deutschland lebenden Bevölkerung. Die Widersprüche zwischen TäterInnen und Opfern, grundlegend gegensätzlichen Klasseninteressen, mörderischen Wahnvorstellungen und der Sehnsucht nach gesellschaftlicher Befreiung, sollen zu einem abstrakten Ganzen glatt gebügelt und als abgeschlossene Geschichte unhinterfragt den herrschenden Interessen dienlich sein. Dennoch und gerade deshalb möchten wir die in diesen Tagen wieder sehr präsente offiziöse Darstellung zum Anlass nehmen, ein Gedenken an die Ereignisse der 9. November aus unserer Perspektive vorzunehmen.

9. November 1938: Reichspogromnacht

Vom 7.-13. November 1938 brannten überall im nationalsozialistischen deutschen Reich Synagogen. Jüdische Geschäfte, Einrichtungen und Wohnhäuser wurden angegriffen, geplündert und zerstört. Als „jüdisch“ eingestufte Menschen wurden vertrieben, in „Schutzhaft“ genommen oder ermordet. Diese Pogrome fanden ihren Höhepunkt am 9. und vor allem am 10. November. 5 ½ Jahre nach der Machtübergabe an die die NationalsozialistInnen erreichte der antisemitische Terror an diesen schwarzen Tagen eine neue Intensität. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war es für alle Menschen deutlich: Jüdinnen und Juden unter deutscher Herrschaft konnten sich ihres Lebens nicht sicher sein.

Die nationalsozialistische Führung bemühte sich, die Pogrome als „spontane Reaktion des deutschen Volkes“ darzustellen. Im historischen Rückblick handelte es sich jedoch um eine von langer Hand geplante und durchgeführte Aktion der Nazis, die jedoch von weiten Teilen der deutschen Mehrheitsbevölkerung begrüßt und mitgetragen wurde. Kritische Stimmen blieben marginal, aktiver Widerstand blieb weitestgehend aus.

Auch als der nationalsozialistische Terror in den Folgejahren zu der industriellen Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden, der Shoa, ausgeweitet wurde, blieb die Öffentlichkeit stumm. 6 Millionen Menschen wurden in einer gigantischen Terrorwelle planmäßig ermordet – und die allermeisten Deutschen verschlossen die Augen oder beteiligten sich aktiv.

An uns als nachgeborene Generationen der NazitäterInnen ist es, die Frage zu stellen, wie es dazu kommen konnte, dass Millionen ganz normaler Deutscher bei Vernichtungskrieg und industriellem Massenmord wegsahen, Beifall klatschten oder aktiv teilnahmen. Wir müssen Lehren aus der mörderischen deutschen Geschichte ziehen und dafür sorgen, dass so etwas nie wieder geschehen kann.

9. November 1918: Novemberrevolte

Im Jahre 1918 lag das deutsche Reich nach Jahren des Krieges am Boden. Die kaiserliche Führung hatte das Land mit Unterstützung des deutschen Adels und der kapitalistischen Eliten der Schwerindustrie an das wirtschaftliche und militärische Aus geführt: Hunderttausende junge Männer waren auf den Schlachtfeldern der Eroberungsfeldzüge des 1. Weltkrieges geblieben. Während die Massen der ArbeiterInnen und der städtischen Bevölkerung hungerten und in bitterer Armut lebten, beanspruchte und verbrauchte die herrschende Klasse den größten Teil des gesellschaftlichen Reichtums für sich und ihren selbst verursachten Krieg um ein Stückchen Weltmacht.

Nachdem die Besatzungen der in Wilhelmshaven liegenden Schlachtschiffe „Thüringen“ und „Helgoland“ am 29.10. den Befehl erhalten hatten sich kurz vor Kriegsende in eine aussichtslosen Seeschlacht mit der überlegenen englischen Kriegsmarine zu stürzen, um wenigstens im Sinne der preußischen Kriegsmoral „heldenhaft“ unterzugehen, war das Maß voll: Die Matrosen meuterten. Als Versuch der Beruhigung des Aufstandes wurden die Matrosen nach Kiel verlegt, was jedoch die gewünschte Wirkung verfehlte: Die Matrosen setzten ihre Kommandanten ab, verbündeten sich mit den ArbeiterInnen, zogen bewaffnet in die Stadt, vertrieben die Polizei, stürmten die Gefängnisse und befreiten ihre inhaftierten Genossen. Die spontan gebildeten Soldaten- und ArbeiterInnenräte übernahmen die Macht in der Stadt.

Die Revolte weitete sich schnell im ganzen Reich aus: Überall entstanden lokale Soldaten – und ArbeiterInnenräte, in München und Bremen wurden die Weichen für die späteren, kurzlebigen Räterepubliken gestellt, in Berlin rief Karl Liebknecht am 9. November die sozialistische Republik aus.

Es ging vielen Aufständischen längst nicht mehr nur um die ursprünglichen Forderungen nach Beendigung des mörderischen Krieges und des Hungers: Nach marxscher Lehre und inspiriert von der russischen Oktoberrevolution ein Jahr zuvor, wollten sie die Verhältnisse „in denen der Mensch ein geknechtetes, erniedrigtes, ein verächtliches Wesen ist“ kippen und eine neue, eine freie und gerechte Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung verwirklichen. Eine Gesellschaft, in der die Wirtschaft zum Wohle aller Menschen und nicht nur für die Profite Weniger da sein sollte, wo alle Menschen gleichermaßen in politische und soziale Entscheidungen einbezogen sein sollten und in der sich die Massen der Menschen ihrer Lage bewusst sein sollten, um immun gegen nationalistische Kriegspropaganda und Minderheitenhetze der Mächtigen zu sein.

Mit Blick auf den drohenden 1. Weltkrieg brachte Rosa Luxemburg – einer der Köpfe der Bewegung – noch vor dessen Ausbruch die Sachlage auf eine präzise Formel: „Sozialismus oder Barbarei!“* Und nachdem sie in vier Kriegsjahren auf grausame Weise Recht behalten hatte, wollten nun hunderttausende Menschen in Deutschland ernst machen mit der Revolution.

* Wir hatten Diskussionen um den Begriff der Barbarei. Aus dem alten Griechenland kommend bezeichnet er Nicht-Griechen als kriegerisch und antizivilisatorisch. Er wurde aber in der jüngeren Geschichte von vielen Linken verwendet, nicht rassistisch, sondern im Sinne von antizivilisatorisch, d.h. antihumanistisch. Wir halten in Bezug auf diese Umdeutung im Sinne von u.a. Rosa Luxemburg die Benutzung des Begriffes für verantwortbar.

9. November 1923: Hitler-Ludendorff-Putsch

Die Revolution konnte sich nicht durchsetzen – es fehlte an Willen, Mut und Organisation. Letztlich übernahm die (M)SPD die konterrevolutionäre Führungsrolle der Bewegung und setzte ihren faulen gesellschaftlichen Kompromiss durch: Der Kaiser blieb zwar dauerhaft vertrieben, was jedoch mehr eine schon vor der Revolte auf Druck der Alliierten beschlossene Maßnahme war, als eine Errungenschaft der Revolutionäre, wie von der Mehrheitssozialdemokratie im Sinne ihrer Umdeutung der Geschichte zu ihren Gunsten später oft behauptet. Auch elementare realpolitische Fortschritte wie das Frauenwahlrecht wurden durchgesetzt. Die alten Eliten aus Industrie, Militär und Politik, also die Verantwortlichen für Massenelend und Krieg, bekamen ihre Machtpositionen jedoch größtenteils zurück.

Die wichtigsten VordenkerInnen der revolutionären Bewegung in Deutschland – Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg – wurden am 15. Januar 1919 zwei Wochen nach Gründung der KPD von rechten Paramilitärs ermordet. Zudem bekamen die Vorläufer der faschistischen Bewegung – weitgehend geduldet oder gar unterstützt von den Mächtigen- zunehmenden Einfluss auf die junge Republik.

Die deutschnationalen Reaktionäre behaupteten „Rote“ und Juden seien verantwortlich für die militärische Niederlage des Kaiserreichs gewesen und leisteten mit der Schaffung der antisemitischen und antikommunistischen „Dolchstoßlegende“ eine der wichtigsten propagandistischen Grundlagen für den späteren rasanten Aufstieg des Nationalsozialismus.

Am 9. November 1923 planten rechte Putschisten unter Führung Adolf Hitlers im Bunde mit dem ehemaligen Weltkriegsgeneral und anerkannten Idol der deutschen Reaktionäre Erich Ludendorff von München aus den „Marsch auf Berlin“, scheiterten aber zunächst.

Es sollte noch bis zum 30. Januar 1933 dauern, bis die NationalsozialistInnen mit ihrer rassistischen, antisemitischen und kriegerischen Zielsetzung an die Macht kamen. Noch einmal behielt Rosa Luxemburg auf schreckliche Art und Weise Recht: Auf das Scheitern der sozialistischen Revolution folgte die nationalsozialistische Barbarei des Vernichtungskrieges und der millionenfachen Ermordung von Jüdinnen und Juden und anderen vermeintlichen Feinden der Wahnvorstellung von einer deutschen „Volksgemeinschaft“.

9. November 1989: Der kurze Traum vom freien Sozialismus

Bis zum endgültigen militärischen Zusammenbruch des Nazireiches, der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus durch die Alliierten formierte sich (anders als in anderen faschistischen Staaten) keine größere organisierte Opposition. Es folgte die Aufteilung Deutschlands in einen kapitalistischen Westen, an dessen Aufbau sich ein Großteil der alten Nazifunktionäre fast problemlos beteiligen konnte, und einen von der Sowjetunion beeinflussten und abhängigen Ostteil, in dem ein nach stalinistischem Vorbild aufgebautes System installiert wurde. Dieses nannte sich zwar „sozialistisch“, hatte mit den Vorstellungen der ursprünglichen Bewegung aber nur noch wenig gemein. Auch wenn z.B. die alten nationalsozialistischen Eliten hier konsequenter ausgetauscht wurden als im Westen, war die Gesellschaft streng hierarchisch von oben nach unten organisiert, freiheitliche Prinzipien wie Meinungs- und Diskussionsfreiheit galten nicht einmal unter den höheren Parteifunktionären.

Gegen dieses Verhältnisse regte sich – wie in allen „realsozialistischen“ Staaten des Ostblocks – immer wieder Protest und Widerstand. Dieser wurde längst nicht nur – wie heute oft von der herrschenden bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung behauptet – von pro-westlichen Kräften getragen. Er formierte sich außerparlamentarisch, aber auch innerhalb des Staatsapparates und sogar innerhalb der SED. Er wurde getragen von Menschen, die es noch mal versuchen wollten mit kommunistischen Vorstellungen, die etwas anderes, einen freien Sozialismus wollten. Während im Moskauer Kreml die ReformerInnen um Gorbatschow an die Macht kamen, wurde 1989 die Bewegung gegen die SED-Bonzen und die verkrusteten Staatsstrukturen der DDR so stark, dass die Honecker-Regierung gefährlich ins Schwanken kam. Unter der, trotz mieser Wortwahl, zunächst noch als progressiv zu verstehenden Parole „Wir sind das Volk!“ gingen hunderttausende in der DDR auf die Straße. Das Experiment eines freien Sozialismus schien realistisch zu sein.

Erst später wurde der bevorstehende Anschluss der DDR an die BRD immer absehbarer und die Parole wandelte sich zum nationalistischen, von Helmut Kohl geprägten „Wir sind ein Volk!“. Die emanzipatorischen Utopien wichen der platten nationalistischen Forderung nach einem vereinigten Deutschland. Es ist also äußerst zynisch, wenn heutzutage ausgerechnet ein Horst Köhler linke Gruppen aus der DDR-Opposition, wie z.B. das „Neue Forum“ auf seiner „Festrede“ am 3. Oktober lobend hervor hebt. Für diese war der 3. Oktober 1990 eine Niederlage: Sie wollten eine Föderation unabhängiger Staaten, keine Vereinigung und erst recht keinen Anschluss der DDR an die BRD.

Als die dreisten Lügen der West-PolitikerInnen von „blühenden Landschaften“ schon bald von der Realität widerlegt wurden, schwand zwar der Glaube an den Kapitalismus, der Nationalismus aber blieb. Folgerichtig konnten Neonazi-Kader aus dem Westen der Wut der Menschen über ihre mitverschuldete Enttäuschung eine Richtung geben: Anfang der 1990er brannten in Ost- und Westdeutschland Flüchtlingsunterkünfte und rechte Übergriffe auf MigrantInnen und Linke wurden Alltag.

Wieder einmal bewahrheitete sich der Satz von Rosa Luxemburg: Der Niederlage des gesellschaftlichen Aufbruchs zur fundamentalen Veränderung des Staatssozialismus der DDR, die mit dem Tag der Maueröffnung am 9. November 1989 als „friedliche Revolution“ für die Prinzipien der kapitalistischen BRD in die herrschende Geschichtsschreibung eingehen sollte, folgte die Barbarei der Pogrome von Rostock-Lichtenhagen, Solingen, Mölln und Hoyerswerda.

9. November 2008: Barbarei und kein Ausweg?

Die Konsequenz war aber nicht etwa eine breit getragene Verabschiedung vom deutschnationalen Irrsinn, ganz im Gegenteil: In den Jahren nach der so genannten Wiedervereinigung wurden rassistische Abschottungspolitik, deutsches Großmachtstreben und Kriegseinsätze der Bundeswehr von der rot-grünen Koalition wieder salonfähig gemacht und im direkten Anschluss ein von der überwiegenden Mehrheit der Deutschen gefeierter schwarz-rot-gelber Nationalstolz etabliert. Und das trotz permanentem Abbau der Menschenwürde auch innerhalb der deutschen Grenzen durch Hartz-4, kostenpflichtigen Gesundheits- und Bildungssystemen oder einem Überwachungsstaat auf der permanenten Überholspur. Selbst der, vor nicht allzu langer Zeit undenkbare, Einsatz der Bundeswehr im Inneren ist beschlossen und dessen endgültige Verabschiedung wohl nur noch eine Frage der Zeit.

Dass faschistische und neonazistische Ideologien, die zwar in einer anderen Verpackung daher kommen, aber nach ähnlichen Denkmustern verlaufen, in einer solchen repressiven Grundstimmung seit Jahren gedeihen können, ist nahe liegend. Die Verhältnisse sind völlig offensichtlich und immer unverblümter beschissen, werden beschissener und sind der weitestgehenden Verstummung kritischer Stimmen 18 Jahre nach der „Wende“ und deren Beschränktheit auf marginalisierte Teile der Gesellschaft zu verdanken. „Nur 1650 Autonome sind nicht stolz auf ihr Land“ titelte nach der antinationalen Demo anlässlich der diesjährigen Propagandafeierlichkeiten am 3. Oktober in Hamburg die Morgenpost. Und da sehen wir auch zukünftig überhaupt keinen Grund zu und geben trotz alledem unsere Hoffnung nicht auf. Wir bleiben kämpferisch!

Denn während dieser Tage ein fast zusammenkrachendes kapitalistisches Bankensystem möglicherweise eine neue, ungewisse Ära der Geschichte andeutet, kommt man vielerorts nicht mehr drumrum, zumindest zaghafte, oft noch ziellose Versuche zu unternehmen das Bestehende zu hinterfragen. Diese Versuche könnten schon in naher Zukunft mehr werden, wenn die noch nicht absehbaren Folgen der aktuellsten Krise des neoliberalen Kapitalismus auf die unteren Bevölkerungsschichten abgewälzt werden sollen. Gerade in solchen Situationen gilt es, sich historisch zu positionieren: Aus der Betrachtung der deutschen Geschichte anhand der 9. November können wir die Erkenntnis ziehen, dass dort, wo eine revolutionäre Bewegung von unten zu schwach war, die Barbarei siegte. Der in jedem Fall notwendige Kampf für ein menschenwürdiges Leben muss jenseits von Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Kapitalismus, Kriegshetze und staatlicher Autorität geführt werden.

REMEMBER THE SPIRIT OF 1918: FÜR DEN AUFBAU EINER NEUEN REVOLUTIONÄREN BEWEGUNG VON UNTEN!

NIE MEHR DEUTSCHE BARBAREI!

Gruppe Zunder (Kiel)